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Das Klingeln des Weckers lässt mich aus meinem Schlaf aufschrecken. Obwohl ich heute nicht arbeiten muss, will ich pünktlich aufstehen. In wenigen Stunden kommt Calvin hier in Pickering an.

Noch verschlafen rolle ich mich auf meine rechte Seite und greife nach meinem Handy. Aus Gewohnheit rufe ich erst meine neuen Nachrichten ab.

"Vorhänge auf. Die Schneeflocken tanzen schon vor deinem Fenster. Fröhliche Weihnachten!"

Seit einer Woche schickt mir Shawn jeden Morgen um Punkt halb sieben eine Nachricht, die mich mit einem Lächeln in den Tag starten lässt. Da ich ein Langschläfer bin, lese ich seine Nachrichten natürlich meistens erst zwei bis drei Stunden später. Dann, wenn er schon längst am Arbeiten ist.

Bist jetzt wollte mir Shawn noch nicht verraten, was er für einen Job hat. Als wir uns letzten Sonntag noch einmal getroffen haben, hat er auf die Frage lediglich geantwortet, dass ich es noch früh genug herausfinden würde. Ich weiß nur, dass er oft bis spät abends arbeitet. Deshalb hat er auch immer erst um Mitternacht seine Pizza bestellt.

"Schöne weiße Weihnacht", schreibe ich schnell zurück.

Erfreut darüber, dass es schneit, tapse ich barfuß zu meinem Fenster. Eine Zeit lang sitze ich auf der Fensterbank und schaue dem Schneetreiben zu. Die Autos und Straßen sind mit einer dicken Schneeschicht bedeckt. Einige Kinder aus der Nachbarschaft sind schon fleißig dabei, einen Schneemann zu bauen.

Die Vorstellung, selbst raus zu gehen und einige Schneeengel zu formen, lässt meine Finger kribbeln. Doch mir ist bewusst, dass ich dafür zu alt bin.

Als ich ausversehen an meine Füße stoße und diese eiskalt sind, sammel ich mir einige Anziehsachen zusammen mit denen ich im Bad verschwinde.

Nach einer ausgiebigen Dusche, schlüpfe ich in meine Unterwäsche, eine Jeans und einen dunkelgrünen dicken Strickpullover. Meine Füße schütze ich vor weiterer Kälte, indem ich meine grauen Kuschelsocken anziehe.

"Guten Morgen! Frohes Weihnachtsfest", begrüße ich Ava, die mit einer Kaffeetasse bewaffnet im Wohnzimmer sitzt. Im Fernseher läuft die alljährliche Weihnachtsshow.

"Frohe Weihnachten", umarmt mich meine Mitbewohnerin. "Bedien dich." Mit einer Kopfbewegung macht sie mich auf die Kaffeekanne und eine Schüssel Plätzchen aufmerksam.

Während ich mir einen Butterkeks verziert mit reichlich Zuckerperlen in den Mund schiebe, mustert mich meine Freundin von der Seite. "Ist was?", frage ich - darauf bedacht nicht zu krümeln.

"Du siehst wirklich hübsch aus. Deine Frisur und dein Outfit - wie eine Frau, die voll und ganz im Leben steht. Calvin wird sich fragen, wann seine Schwester so erwachsen geworden ist", lächelt Ava sanft.

Meine Nase kräuselnd blicke ich sie erstaunt an. "Danke, schätze ich. Wieso bist du ausgerechnet heute so einfühlsam?"

"Ich bin immer einfühlsam", boxt Ava gegen meine Schulter, "aber heute ist eben das Fest der Liebe. Da sollte man den Menschen in seiner Umgebung etwas Nettes sagen."

"Wow Ava, da nehme ich das Gesagte gleich viel ernster. Ich spüre förmlich, wie du dir diese Sätze aus den Fingern gezogen hast", rolle ich mit meinen Augen.

Meine Mitbewohnerin berührt vorsichtig meine Schultern. "Nein, ich habe es wirklich so gemeint, wie ich es eben gesagt habe, Vic. Dein Bruder wird stolz auf dich sein. Ich bin stolz auf dich. Du meisterst das alles hervorragend. Wenn mir etwas fehlt, laufe ich sofort zu meinen Eltern. Aber du...Du brauchst keine Hilfe."

Kleine Tränen wollen aus meinen Augen rollen, doch ich blinzel sie weg. "Danke", lächel ich, "das ist das beste Weihnachtsgeschenk, das du mir machen konntest."

Im gleichen Moment erinner ich mich, dass das Geschenk für Ava noch unter meinem Bett liegt. Schnell gehe ich es holen.

"Das ist für dich", reiche ich ihr eine grüne Box. In ihr befinden sich einige Acrylfarben und neue Pinsel. Ava zeichnet und malt für ihr Leben gerne. Deshalb studiert sie am Durham College auch Kunst.

"Und das ist dein Geschenk", reicht mir meine Mitbewohnerin ein goldenes Säckchen, "du bekommst nicht nur sentimentales Gesabbel von mir." Lachend packen wir die Geschenke aus.

Aus dem Säckchen ziehe ich ein braunes Lederarmband, welches ich mir sofort um mein Handgelenk lege. Ich liebe solche Armbänder.

Beinahe gleichzeitig bedanken wir uns beieinander. Wir schrecken zusammen, als es an der Tür klingelt.

"Das ist Calvin!", rufe ich aufgeregt, während ich zur Wohnungstür renne und den Öffner gedrückt halte.

Während ich anfangs nur seine Schritte höre, sehe ich ihn schon bald darauf die Treppenstufen hoch gehen. Ohne lange zu fackeln, springe ich meinem Bruder in die Arme.

"Hey, Vicky", fängt er mich auf und hält mich wie ein Koalabär fest. "Ich bin so froh, dass du da bist", seufze ich in seine Halsbeuge. "Und ich erst." Calvin lässt ein fröhliches Lachen verlauten, dreht sich mit mir einmal im Kreis und setzt mich dann im Flur wieder ab.

Nachdem sich Ava und er begrüßt haben, ziehe ich ihn mit in mein Zimmer. Kurz nachdem ich in die WG eingezogen bin, war mein Bruder schon einmal hier.

"Du musst mir alles erzählen, was du erlebt hast. Wie das Training dieses Jahr lief. Wie es war an der Weltmeisterschaft teilzunehmen. Wie es mit Maya läuft. Was du für Pläne für das nächste Jahr hast. Wann du mich endlich nach New York in deine Wohnung einlädst..."

"Schon gut, schon gut. Ganz langsam, Vicky", unterbricht mich Calvin in meinem Redeschwall. "Das Meiste habe ich dir doch schon am Telefon erzählt", lacht er.

"Ja, aber ich möchte es trotzdem noch einmal hören, wenn du mir gegenüber sitzt und ich deine ganzen wilden Handbewegungen sehen kann, wenn du dein Gesagtes veranschaulichen willst", lächel ich.

Wir lassen uns auf der Fensterbank, die mit Decken und Kissen ausgelegt ist, nieder. "Außerdem weißt du, was das heißt." Mit meinem Zeigefinger deute ich nach draußen, wo immer noch die Schneeflocken vom Himmel fallen.

"Heiße Schokolade mit Marshmallows und reden bis es dunkel wird", nickt mein großer Bruder, "das wird sich in hundert Jahren nicht ändern."

Ein leises Klopfen veranlasst mich vor meine Zimmertür zu treten.

"Okay, ich fahre jetzt rüber zu meinen Eltern. Ruf an, wenn das Haus am brennen ist. Morgen Mittag bin ich wieder zurück", verabschiedet sich Ava mit einer Umarmung von mir. Ihre Familie lebt gerade mal eine 30 minütige Zugfahrt von hier entfernt.

"Mach ich. Genieß den Feiertag", erwidere ich.

Mit zwei Tassen Kakao in meinen Händen betrete ich etwas später wieder mein Zimmer. "Leg los, Cal. Wir haben die ganze Nacht Zeit."

Meant To Be \\ Shawn MendesWo Geschichten leben. Entdecke jetzt