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November 2023

"Du solltest ihm die Wahrheit sagen", kratzt sich Calvin an seinem Kinn. Dabei ertönt das altbekannte Geräusch, das entsteht, wenn Fingernägel über Bartstoppeln fahren. "Ich weiß", seufze ich, bevor ich meine Stirn auf die Tischplatte fallen lasse. "Autsch", verziehe ich sofort darauf mein Gesicht.

"Wovor hast du eigentlich Angst? Ihr sprecht doch sonst immer über alles?", fragt mich mein Bruder, nachdem er schlürfend seinen Kaffee ausgetrunken hat. "Wovor ich Angst habe?", sehe ich fassungslos zu dem Blondhaarigen hinüber. "Erzähl mir nicht, dass du gerne hören würdest, dass du das Problem bist", lache ich trocken. Ein wenig genervt von seinem Unverständnis, beginne ich damit, die rote Serviette vor mir zu zerreißen.

"Vielleicht würde ich es nicht gerne hören. Aber ich würde es hören wollen", behauptet Calvin. Sanft lächelt er mich an, während er seine Tasse erneut mit Kaffee befüllt. "Das sagst du nur, weil du nicht in Shawns Haut steckst", lege ich meinen Kopf schief. Lustlos schütte ich mehrere Teelöffel Zucker in meine Kaffeetasse. Es ist beruhigend, wie die weißen Körner in der braunen Brühe versinken.

"Vicky, du steckst ebenfalls nicht in seiner Haut", nimmt mir mein Bruder den Löffel aus meiner Hand, "glaub mir, Probleme können viel einfacher gelöst werden, wenn man über diese spricht." Meine Augen verdrehend sehe ich ihn einige Sekunden stumm an. "Als wüsste ich das nicht selbst", schmunzle ich schließlich. "Ich wollte es dir nur noch einmal gesagt haben", lacht der Blondhaarige leise.

"Versprich mir, dass du noch heute mit ihm darüber redest", hält mich Calvin an meinen Schulter fest, nachdem ich meine Jacke angezogen habe. Meine Füße stehen etwas merkwürdig über Kreuz, als ich auf meine Stiefel hinunterblicke. "Ich verspreche es", räuspere ich mich. Dann greife ich nach der Türklinke. Doch bevor ich sie hinunterdrücken kann, knackt das Schloss und sie öffnet sich von ganz alleine.

"Huch", stößt Maya ein wenig erschrocken aus, während sie den Flur betritt. "Schön dich zu sehen", begrüßt mich die Frau schließlich. "Finde ich auch", lächle ich gezwungen. Eigentlich freue ich mich wirklich sie zu sehen. Jedoch fällt mein Blick auf ihren Bauch, der seit sieben Monaten kontinuierlich wächst.

Es fühlt sich an, als wäre ich eingefroren. Die Zeit scheint still zu stehen. Gedämpft bekomme ich mit, wie Maya meinen Bruder mit einem kurzen Kuss begrüßt. Als wäre mein Kopf in Watte gepackt, nehme ich das Gesprochene nur als ein undefinierbares Murmeln wahr. Alles, worauf ich mich konzentrieren kann, ist die Kugel, die sich unter dem grauen Pullover abzeichnet.

Dass Maya schwanger ist, kommt mir plötzlich so seltsam - so fremd - vor. Sie ist fünf Jahre älter als ich und setzt in knapp zwei Monaten ein neues Leben in die Welt. Währenddessen versuche ich mit beinahe sechsundzwanzig Jahren vergeblich ein Kind zu bekommen. Ich würde es nicht als unfair bezeichnen. Mit dreißig ist man alles andere, als zu alt für das erste Kind. Vielmehr lässt mich die jetzige Situation darüber nachdenken, ob ich nicht noch zu jung bin.

Vielleicht verwehrt uns eine höhere Gewalt das Glück eines Neugeborenen, weil sie genau weiß, dass wir noch nicht so weit sind. Die letzten Monate war ich mir unheimlich sicher, dass ich mit Shawn eine Familie gründen möchte. Aber im Augenblick erscheint mir das Tempo so rasend schnell. Womöglich spüre ich gerade das, was man als 'kalte Füße bekommen' betitelt. Etwas, das vielen Menschen vor der Hochzeit widerfährt. 

Ich frage mich, was ich in meinem Leben überhaupt erreicht habe. "Du bist die Frau von Shawn Mendes. Du hast das erreicht, von dem zehntausend Mädchen nur träumen können", höre ich Paulas schwärmende Stimme in meinem Kopf. Ohne es verhindern zu können, muss ich bei dem Gedanken an meine Freundin lächeln.

Während ich weiter auf den runden Bauch von Maya starre, überkommt mich das Gefühl, weglaufen zu müssen. Ich weiß nicht in welche Richtung oder was mein Ziel sein soll. Ich weiß nur, dass ich schnell sein muss. Schnell und reuelos. Als ich erneut nach der Türklinke greifen will, werde ich von meinem Bruder aufgehalten.

"Ist alles in Ordnung?", legt Calvin vorsichtig eine Hand an meine Wange, während er mich eindringlich mustert. Für einen kurzen Moment bilde ich mir ein, ich würde in die haselnussbraunen Augen von Shawn blicken. Augen, in denen ich mich niemals wieder verlieren könnte, wenn ich wirklich weglaufen würde. "Natürlich", hebe ich meine Mundwinkel ein kleines Stück nach oben.

Aus dem Augenwinkel nehme ich wahr, wie uns Maya mit einem verwirrten Gesichtsausdruck beobachtet. Wie soll sie mein merkwürdiges Verhalten auch verstehen, wenn sie nicht weiß, dass ich im Gegensatz zu ihr keine Kinder bekommen kann. Zumindest keine Kinder, die die Gene meines Mannes in sich tragen. "Stell keine Dummheiten an", flüstert mir mein Bruder in mein Ohr.

Kopfschüttelnd schlinge ich meine Arme um seinen Oberkörper. Während mir Calvin einen kurzen Kuss auf meinen Scheitel gibt, schließe ich meine Augen. Mal wieder drohen Tränen aus ihnen zu fließen. Tief atme ich den Duft seines Aftershaves ein, bevor ich mich sanft von meinem Bruder löse. Die Umarmung hat unheimlich gut getan. "Ich habe dich lieb, Cal", verabschiede ich mich flüsternd von ihm.

Noch immer durcheinander setze ich mich in den schwarzen Jeep, den ich seit unserem Umzug benutzen darf, da ich meinen alten VW Polo verkauft habe. Vorsichtig reihe ich mich in den New Yorker Verkehr ein. Es sind knapp zehn Meilen, die ich fahren muss. Zehn Meilen, auf denen ich über meine Entscheidungen nachdenken kann.

Kurz bevor ich auf die Upper East Side einbiege, halte ich am Straßenrand. Die digitale Anzeige der Apotheke auf der Ecke teilt mir mit, dass sie geöffnet hat. Nach meinem Geldbeutel greifend steige ich aus Shawns Auto aus, bevor ich die riesige Apotheke betrete. Zehn Dollar muss ich bezahlen, um eine Packung Folsäuretabletten zu erhalten. Zehn Dollar für nichts Nützliches.

Während ich darauf warte, dass die Türen unseres Aufzuges aufgehen, sehe ich immer wieder auf die weiße Schachtel in meiner Hand hinab. Es ist nicht die Erste, die ich in den letzten zwei Wochen gekauft habe. Tag für Tag schlucke ich unter den kritischen Blicken von Shawn drei Tabletten. Tag für Tag verspreche ich ihm, dass dadurch alles besser werden wird. Tag für Tag fühle ich mich ein Stück schlechter.

Seufzend betrete ich unsere Wohnung. Innerhalb weniger Schritte habe ich das Schlafzimmer erreicht. Routinemäßig stelle ich erst meine Tasche auf der Kommode ab, bevor ich aus meinen Schuhen schlüpfe. Doch als ich mich währenddessen umdrehe, falle ich vor Schreck beinahe um.

Die Bettdecken und Kissen liegen nicht, wie heute Morgen, geordnet auf dem Bett, sondern auf dem Boden. Die Schubladen meines Nachttisches sind alle geöffnet und die Broschüren, die ich darin verstaut habe, wurden scheinbar durch den Raum geworfen. Der Anblick der umgefallenen Nachttischlampe lässt in mir Panik aufsteigen.

Fest presse ich meine Hände auf mein rasendes Herz. Dabei zerquetsche ich die kleine Packung mit den Folsäuretabletten. Doch als ich zum Bettende sehe, lasse ich diese sowieso fallen. Eine zusammengekauerte Gestalt sitzt auf dem Boden. "Shawn?", frage ich beinahe tonlos, bevor ich mich neben ihm niederlasse.

Seine Augen sind rot - blutunterlaufen und mit Tränen gefüllt. Die Ader an seinem Hals tritt viel stärker als sonst hervor. Außerdem höre ich seinen Kiefer deutlich knacken. Es dauert einen Moment, bis Shawn seinen starren Blick von der weißen Wand nimmt und mein Gesicht fokussiert.

Ich will meine Hand an seine Wange legen und die Tränen wegwischen. Doch mein Mann schüttelt leicht den Kopf, während neue Tränen seine Haut mit Nässe benetzen. Ein riesiger Klumpen bildet sich in meinem Hals - verhindert, dass ich sprechen kann. Währenddessen schmerzt meine linke Brust so stark, dass ich befürchte, einen Herzinfarkt zu erleiden.

Zitternd pustet Shawn seine angestaute Luft aus. Dann zieht er ein zusammengeknülltes Blatt glatt. "Familienplanung - Störungen bei dem Mann", lese ich stumm den Titel der Broschüre. "Ich bin es?", fragt der Braunhaarige mit belegter Stimme, "ich bin es Schuld?"

Alles in mir schreit danach, 'Nein' zu rufen. Jede Faser in meinem Körper, möchte ihn vor der Wahrheit beschützen. Doch letztendlich trifft mich die Erkenntnis, dass es dafür zu spät ist. Vorsichtig nehme ich ihm das Papier aus der Hand, während ich nicke. "Wahrscheinlich", flüstere ich.

Meant To Be \\ Shawn MendesWo Geschichten leben. Entdecke jetzt