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Oktober 2023

Während ich tief einatme, um möglichst viel Sauerstoff in mich aufzunehmen, lasse ich das kleine Plastikgehäuse auf die weiße Ablage sinken. Als würde ich nicht in meinem eigenen Körper stecken, sehe ich mir dabei zu, wie ich den langen Flur, an dessen Wände wir einige Spiegel angebracht haben, entlanglaufe. Obwohl ich es geahnt habe, ist das Ergebnis doch ziemlich ernüchternd. Darauf bedacht, dass ich nicht über meine eigenen Füße, die sich plötzlich so schwer anfühlen, stolpere, biege ich in unser Wohnzimmer ab.

Shawn ist noch nicht zu Hause. Doch er sollte in Kürze von seinem Treffen mit Andrew zurückkehren. Wie ferngesteuert greife ich nach der Bedienung für den Fernseher. Lustlos schalte ich von Sender zu Sender, um letztendlich bei 'Animal Planet' hängen zu bleiben. "Im Durchschnitt gebärt ein Weibchen bis zu sieben Kinder im Jahr", gibt der Moderator von sich. Seine Stimme ist angenehm. Das Thema eher weniger. Während ich auf den großen Bildschirm starre, vermischt sich das Erzählte zu einem unauflöslichen Brei. Ich höre überhaupt nicht darauf, was der Mann im Hintergrund erzählt. Alles, was ich registriere, sind die kleinen Säuglinge, die von ihrer Mutter beschützt werden.

Die laute Stimme meines Mannes lässt mich aus dem Strudel meiner Gedanken auffahren, als er meinen Namen ruft. "Was machst du denn?", läuft Shawn eilig auf mich zu. Verwirrt blicke ich durch den Raum. Dann auf meine Hände, als der Braunhaarige diese ergreift. Meine Knöchel sind weiß, wie die Wand, und aus dem Handrücken ist jegliches Blut entwichen. Unterbewusst habe ich die Fernbedienung regelrecht zerdrückt. Währenddessen muss ich sogar aufgestanden sein. Denn ich befinde mich direkt vor unserem Fernseher.

"Gib sie mir", fordert mich der Junge sanft auf, bevor er mir die Bedienung aus der Hand nimmt. Kurz darauf wird der Bildschirm vor mir schwarz. Trotzdem starre ich ihn noch einige Sekunden an. Nachdem Shawn seine Finger an mein Kinn gelegt hat, dreht er mein Gesicht zu sich. "Was ist los, Victoria?", flüstert er schon beinahe, während er mit seinen Daumen kleine Kreise auf meinen Wangen zieht. Seine Lippen schweben direkt vor meinen, sodass ich nicht anders kann, als meinen Mann noch näher an mich heranzuziehen und meine Finger in seinen braunen Haaren zu vergraben.

In dem Moment, in dem sich unsere Münder im Einklang aufeinander bewegen, verzieht sich der Dunst, der in den letzten Minuten meine Sinne vollkommen vernebelt hat. "Versprich mir, dass du bei mir bleibst", hauche ich außer Atem gegen seine Wange. "Geh nicht", füge ich bittend hinzu. "Ich habe doch heute Morgen gesagt, dass der Abend uns gehört", streicht mir Shawn einige Strähnen hinter mein Ohr. Zwar bildet sich auf seinen Lippen ein Lächeln. Jedoch fängt es langsam an zu bröckeln, als er mich genauer betrachtet.

"Ich rede nicht von heute, Shawn", schlucke ich schwer, "du musst mir versprechen, dass du mich nicht verlässt." Meine Finger zittern leicht, als ich diese aus seinen braunen Locken herausziehe und in meinem Kapuzenpullover vergrabe. "Es gibt doch überhaupt keinen Grund, wieso ich dies tun sollte", runzelt Shawn seine Stirn. Tiefe Furchen bilden sich zwischen seinen Augenbrauen, während ich meinen Mann in aller Ruhe einfach nur betrachte.

Auch wenn ich unterbewusst ganz genau weiß, dass er mich nicht einfach zurücklassen würde, möchte ich mir noch einmal jedes Detail seines Gesichts einprägen. "Rede mit mir, Victoria", fordert mich der Braunhaarige auf. Es ist auf keinen Fall eine herrische Aufforderung. Es schwingt viel mehr der Nebensatz 'dann wird es dir besser gehen' mit. Doch ich kann mich nicht dazu durchringen, den alles entscheidenden Satz auszusprechen. Vielmehr verzehrt sich jede einzelne Faser meines Körpers danach, Shawn zu berühren, ihn zu küssen und einen weiteren Versuch zu starten.

Ohne lange darüber nachzudenken, stelle ich mich auf meine Zehenspitzen und presse meine Lippen auf seine, während ich meine Arme um seinen Nacken schlinge. Ich spüre durchaus die Verwirrung des Jungen. Und auch die Intensivität des Kusses ist noch lange nicht so stark, wie sonst. Als ich meinem Mann jedoch zaghaft auf die Unterlippe beiße, kann er sich ein leises Stöhnen nicht verkneifen. Kurz darauf vergraben sich seine starken Hände in meinen Haaren.

Die Anspannung verlässt seinen Körper. Somit ist es ein Leichtes, Shawn in Richtung des Sofas zu drücken. Mit einer geschickten Bewegung drehe ich uns Beide und lasse mich als Erste in die Kissen fallen. Nach Atem ringend mache ich mich an der silbernen Schnalle seines Gürtels zu schaffen. Hektik überkommt mich, als sie sich nicht direkt öffnen lässt. Shawns Lippen wandern an meinem Nacken auf und ab. Eine Stimme in meinem Kopf schreit unaufhörlich, dass ich endlich seine Hose öffnen soll. Doch es will einfach nicht funktionieren.

"Scheiße", rufe ich frustriert aus. Mit meiner Ungeschicktheit habe ich mir nun selbst den einzigen Ausweg verbaut. Mit voller Wucht schmettere ich meinen Hinterkopf auf eins der vielen Sofakissen. "Erzählst du mir jetzt, was los ist?", fragt Shawn, nachdem er seine Arme durchgedrückt hat und über mir schwebt. "Hast du die ganzen letzten Minuten an nichts Anderes gedacht?", stelle ich mit schriller Stimme eine Gegenfrage. Auch wenn Hysterie normalerweise überhaupt nicht meine Art ist.

Genau deshalb, geht der Junge wahrscheinlich erst gar nicht darauf ein. "Mach endlich deinen Mund auf", vergräbt Shawn seine Hände in seinen Locken, nachdem er sich am andere Ende des Sofas angelehnt hat. Nun wird auch er ungeduldig. "Ich", kneife ich meine Augen zusammen, ohne weiterzusprechen. Mit aller Kraft versuche ich meine Tränen zurückzuhalten. Ich möchte nicht schon wieder weinen. Erst gestern überkam mich ein regelrechter Heulkrampf, weil mir der Umzug und die damit verbundenen Umstellungen immer noch zu Schaffen machen.

"Badezimmer", ist alles, was ich herausbringe, während ich das Brennen meiner Augenlider versuche zu ignorieren. Die Geräuschkulisse verrät mir, dass mein Mann aufgesprungen und auf dem Weg ins Bad ist. "Wie kann das sein?", höre ich Shawn fragen. Jedoch antworte ich ihm nicht. Erst als ich spüre, wie sich die Sitzkissen des Sofas nach unten senken, öffne ich meine Augen. Auf seinem Gesicht bildet sich ein sanfter Ausdruck, während der Braunhaarige von dem kleinen Plastikgehäuse zu mir aufblickt.

"Normalerweise würde ich dir jetzt eine sarkastische Antwort geben und dir erzählen, dass sowas nun einmal passiert, wenn man miteinander schläft. Allerdings kann ich das in der jetzigen Situation schlecht, da dieses blöde Teil nur einen Strich anzeigt", versuche ich meine Gefühle zu überspielen. Dabei weiß ich nicht einmal, welche ich genau unterdrücke. Verzweiflung, Wut, Angst - wahrscheinlich von allem ein bisschen.  

Vorsichtig lässt Shawn den Schwangerschaftstest auf den Teppich sinken. Dankbar, dass er ihn nicht auf dem Glastisch abgelegt hat, lächle ich ihn zaghaft an. Schließlich habe ich auf diesen Plastikstreifen drauf gepinkelt und auf dem Wohnzimmertisch befinden sich oft genug Lebensmittel. "Warst du schon beim Arzt?", verschränkt der Junge unsere Hände miteinander. "Nein", schüttle ich meinen Kopf, bevor ich mich aufrichte, "davor habe ich zu große Angst."

Schließlich ist es nicht der erste Schwangerschaftstest, den ich gemacht habe. Es ist nicht der Erste, der negativ ist. Genaugenommen waren alle Zwölf, die ich im vergangenen Quartal benutzt habe, negativ. Seufzend zieht mich Shawn näher zu sich heran. Nachdem ich meinen Kopf auf seiner Brust abgelegt habe, vergräbt er sein Gesicht in meinen Haaren. Ich liebe diese Position. Und ich liebe diesen Mann.

Alles, was diesen Moment ungemein schmälert, ist die Frage, die seit vielen Wochen in meinem Kopf umherschwirrt. Die Frage, die nun laut über meine Lippen kommt. "Was ist, wenn ich keine Kinder bekommen kann?"

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Dam Dam Daaam😱

Ich hoffe, ich habe häufig genug die Bezeichnung 'der Braunhaarige' benutzt!😏😂

Für das nächste Kapitel muss ich noch ein wenig Recherche betreiben, aber hier hattet ihr schon einmal einen Lückenbüßer.

Meant To Be \\ Shawn MendesWo Geschichten leben. Entdecke jetzt