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Oktober 2022

Während sich auf den Lippen meiner Mutter ein zaghaftes Lächeln ausbreitet, streckt sie dem Jungen neben mir ihre Hand entgegen. "Hallo Shawn", deutet sie ein leichtes Nicken mit ihrem Kopf an, "du darfst mich gerne mit dem Vornamen ansprechen. Ich bin Karola und mein Mann heißt Ian." Danach verstummt die blondhaarige Frau wieder. Ein Satz, wie 'Schön dich kennenzulernen' entflieht ihrem Mund nicht einmal ansatzweise.

"Ich habe die Ehre, Ihre Tochter heiraten zu dürfen", äfft mein Vater Shawn plötzlich nach, "ein wenig aufgeblasen. Findest du nicht auch, Junge?" Automatisch halte ich meine Luft an. "Ich denke nicht, Sir", sieht der Braunhaarige meinen Vater mehr als irritiert an. Als Shawn seinen Mund erneut öffnet, hebt mein Vater sein Kinn ein Stück in die Höhe und legt den typischen Blick, der selbst Calvin heute noch verstummen lässt, an den Tag.

"Ich habe Hunger. Wir sollten endlich etwas essen", dreht sich der grauhaarige Mann um hundertachtzig Grad, nachdem er meinen Verlobten eine Zeit lang herausfordernd angestarrt hat. Sofort verschwindet meine Mutter hinter meinem Vater in der Küche. "Es tut mir leid", halte ich meinen Blick auf den Boden gerichtet, während ich mich in Shawns Richtung wende. "Hey, sieh mich an", legt er seine Finger unter mein Kinn.

Vorsichtig hebe ich meinen Kopf in die Höhe. Als ich sein betrübtes Gesicht erblicke, treten mir am heutigen Tag schon zum zweiten Mal die Tränen in die Augen. "Ich halte das nicht einen ganzen Abend aus", flüstere ich. Obwohl ich mich dagegen wehre, zittert meine Stimme bei jedem Wort ein wenig stärker. Sanft streicht mir Shawn meine Haare hinter die Ohren. "Wir stehen das zusammen durch, okay?"

"Okay", nicke ich, während ich mich in dem dünnen Stoff seines Hemdes festkralle. "Ich liebe dich, Victoria", nähert sich der Junge meinen Lippen, "und du musst keine Angst haben, dass der heutige Tag daran etwas ändern wird." Ein Laut, der wie ein Schluchzen klingt, verlässt meinen Mund, bevor ich diesen gegen die weichen Lippen meines Verlobten presse. Es fühlt sich an, als würde mich diese Berührung gerade im richtigen Moment vor einem elendig langsamen Ersticken bewahren.   

"Victoria!", unterbricht die harsche Stimme meines Vaters unseren Kuss. Augenblicklich fahren wir Zwei auseinander. Doch zum Glück steht mein Vater nicht neben uns im Flur. "Wir sollten ihn nicht länger warten lassen", murmle ich, während ich meine Hand mit der von Shawn verschränke. Mit einem möglichst selbstsicheren Gang betrete ich schließlich das kleine altmodisch eingerichtete Esszimmer.

Nachdem wir uns gesetzt haben, richtet meine Mutter das Essen an. Obwohl der Deckel der Porzellanschüssel höchstens ein Zentimeter geöffnet ist, zieht sich mein Magen zusammen. Alleine von dem Geruch, den der Rosenkohl verbreitet, wird mir schon schlecht. Meine Zähne zusammenbeißend lege ich mir einige Kartoffeln auf meinen Teller. Bei jeder Bewegung unterdrücke ich das Zittern meiner Finger erneut. Doch Shawn bemerkt es trotzdem.

Unter dem Tisch greift der Braunhaarige nach meiner freien Hand, während er von meiner Mutter ein Stück des Bratens auf den Teller gelegt bekommt. "Dankeschön", lächelt Shawn die Frau etwas schief an. Ich kann mir nur ansatzweise vorstellen, wie unwohl sich mein Verlobter in dieser ganzen Situation fühlen muss. "Guten Appetit", stoße ich hervor, bevor ich anfange nervös zu lachen.

"Wie läuft das Studium?", erkundigt sich mein Vater nach einiger Zeit, in der wir stillschweigend gegessen haben. "Das habe ich bereits vor anderthalb Jahren abgeschlossen", gebe ich stumpf von mir. Denn wenn er sich wirklich für meinen Werdegang interessieren würde, wüsste er, dass ich nicht mehr studiere. "Und jetzt?", schiebt sich der Mann gegenüber von mir beinahe gelangweilt ein Fleischstück in den Mund. "Jetzt arbeite ich", halte ich mich so kurz angebunden, wie möglich.

"Jetzt arbeitest du", wiederholt mein Vater. So, als müsste er kurz über das Gesagte nachdenken. "Du schickst sie arbeiten, obwohl du in Geld schwimmst?", wendet er sich schließlich an Shawn. "Und du willst der Mann sein, der meine Tochter heiratet?", lacht der Grauhaarige auf. "Dad, bitte", lehne ich mich ein Stück über den Tisch, "das war meine Entscheidung. Ich will nicht schon mit Mitte zwanzig Zuhause herumhocken."

Meant To Be \\ Shawn MendesWo Geschichten leben. Entdecke jetzt