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Möglichst unauffällig schiele ich immer mal wieder zu Shawn hinüber. Es ist wahrscheinlich unmöglich, dass er bei irgendeiner Tätigkeit nicht perfekt aussieht.

"Macht es dir etwas aus, wenn wir kurz bei dem Haus meiner Familie vorbei fahren? Meine Mom hat mir gerade geschrieben, dass ich noch ein paar Sachen abholen soll", ergreift der Junge auf dem Fahrersitz das Wort.

"Nein, ist überhaupt kein Problem", lächel ich. Ich frage mich, ob Aaliyah möglicherweise zu Hause ist.

"Mom, Dad! Ich bin da. Wo stehen die Kisten?", ruft er durch das Haus, nachdem er die Tür aufgeschlossen hat. Aus der linken Richtung ertönt eine tiefe Stimme. "In deinem alten Zimmer."

"Kommst du mit?", fragt Shawn, während er mir seine Hand entgegen streckt. Nickend ergreife ich diese.

"Hey, Dad", schaut der Braunhaarige kurz ins Wohnzimmer hinein. Ein grauhaariger Mann winkt seinem Sohn zu. Einen Moment fällt sein Blick auf mich. Mit einem Lächeln und grüßenden Kopfnicken wendet er sich wieder dem Fernseher zu.

Als wir eine schmale Treppe hinauf gegangen sind, betreten wir ein kleines Zimmer, in dem nicht wirklich viel drin steht. "Tja, das war achtzehn Jahre lang mein Reich", klopft er mit der flachen Hand gegen eine beige gestrichene Wand.

"Es bleibt nicht unbedingt viel Spielraum, aber mal dir einfach die schönste Einrichtung aus", lacht Shawn. "Ich bin mir sicher, dass es gemütlich aussah." Lächelnd lehne ich mich an den Türrahmen.

Fußschritte veranlassen mich dazu mich umzudrehen. "Victoria", ruft Aaliyah erfreut aus. Dann umarmt sie mich stürmisch. "Wie geht es dir? Bist du gut ins neue Jahr gekommen?", erkundige ich mich.

Die Antwort fällt weg, als eine blonde Frau in das Zimmer tritt. "Am besten nimmst du alle drei Kisten mit. Dann ist das Zimmer frei und wir können es für Aaliyah fertig machen", spricht sie mit Shawn.

"Ist okay, Mom", stapelt der Braunhaarige zwei Kisten übereinander. "Die kleine Hexe hat lang genug auf mein Zimmer gegeiert."

"Du solltest dir die Sachen umbedingt angucken. Du glaubst gar nicht, was ich beim Neujahresputz noch alles gefunden habe", lacht Shawns Mutter.

"Oh, hallo", dreht sie sich etwas verwirrt zu mir um. "Guten Abend", lächel ich höflich.

Ich helfe Shawn dabei die Kisten in sein Auto zu verstauen. Dann fahren wir noch einmal etwa eine viertel Stunde bis wir vor seinem Haus ankommen.

Auf seine Aufforderung hin, lasse ich mich auf sein Bett nieder. Es ist wirklich gemütlich. Da Shawn im Bad verschwunden ist, surfe ich auf meinem Handy im Internet.

"Telefon weg", sing der Braunhaarige. Dann springt er auf sein Bett und hüpft auf der Matratze herum. In meiner Liegeposition werde ich kräftig durchgeschüttelt. "Hör auf, du machst dein Bett noch kaputt", kicher ich.

Plötzlich lässt er sich fallen und landet halb auf mir. Mein Atem stockt. Jetzt im Augenblick überlege ich im Ernst, wie es wäre Shawn zu küssen.

Würde er den ersten Schritt wagen? Wären seine Augen geschlossen, wenn er unsere Lippen miteinander verschließt? Ob seine Lippen weich oder rau sind? Würde er seine Hände in meinen Haaren vergraben?

Doch dann rufe ich mir ins Gedächtnis, dass ich ihn gerade einmal fünf Wochen kenne. Verhältnismäßig verbringe ich ziemlich viel Zeit mit ihm. Aber ich bin mir nicht sicher, ob es genügend Treffen waren, um über das Küssen nachzudenken.

Liebevoll lächelt er mich an. Dann rollt er sich von mir runter. Wie man es früher als kleines Kind gemacht hat. Dann wenn man so getan hat, als wäre man ein Baumstamm.

Er ist ein großes Kleinkind. Aber das schmälert sein Erscheinungsbild nicht im geringsten. Es lässt ihn viel eher noch attraktiver wirken. Denn wer mag keine Menschen, die auch über sich selbst lachen können und nicht alles immer so ernst nehmen.

"Na dann lass und mal nachschauen, was meine Mutter alles so gefunden hat", reibt Shawn seine Hände an einander, nachdem er eine der drei Kisten auf die Matratze gehievt hat.

Viele Dinge sind einfach wild durcheinander gewürfelt. "Oh mein Gott, das ist total süß", ziehe ich ein altes Polaroidbild aus dem Pappkarton. Es zeigt Shawn und Aaliyah, die gemeinsam eine Schultüte in der Hand halten.

Der Junge beugt sich zu mir hinüber und betrachtet das Foto. "Ohje, das war die schlimmste Phase in meiner Entwicklung", lacht er, "schau dir nur meine Frisur an."

Vorsichtig streiche ich mit meinem Zeigefinger über die raue Oberfläche. "Ich denke, sie steht dir. Und wenn du das hier, als deine schlimmste Phase beschreibst, hattest du anscheinend in deinem ganzen Leben noch keine Identitätskrise. Dann bist du schon von klein auf der gut aussehende Shawn gewesen."

"Identitätskrisen? Die hatte ich zu Genügen", wühlt er in der Kiste umher. "Ich wette, meine Mutter hat auch das Magcon Album hier hinein gestopft. Auch wenn ich es absichtlich zuhause liegen lassen habe."

Shawn klappt ein graues Fotoalbum auf. Es ist überfüllt mit irren Fotos. Oft ist der Braunhaarige mit einigen anderen Jungen und einem rothaarigen Mädchen zu sehen. Generell ist immer viel los auf den Bildern.

"Siehst du diese schwarzen Plättchen in meinen Ohren? Wenn ich es mir recht überlege, waren die Piercings meine schlimmste Phase", deutet er auf eine Nahaufnahme seines Gesichts. "Du hattest deine Ohrläppchen gepierct?", frage ich überrascht.

Reflexartig hebe ich meine Hand an sein Ohr. Gespannt fahre ich durch die kleinen Locken, die sein Ohr verdecken. Natürlich sehen seine Ohrläppchen ganz normal aus. Wahrscheinlich sind die Plättchen schon ein paar Jahre raus.

Seine Hand mit meiner verschränkend fährt er fort, die Kiste zu durchforsten. Weitere Familienfotos kommen zum Vorschein. Ebenso CDs und Kasetten. Sogar eine kleine Ukulele.

"Erzählst du mir irgendwann was es mit diesem Magcon auf sich hat?", erkundige ich mich, als ich durch einen Stapel bemaltes Papier blättere. Immer wieder ist dieses Wort, 'Shawn Mendes' oder etwas von Harry Potter auf die Blätter gemalt beziehungsweise gezeichnet.

"Mache ich", nickt er träge, "aber nicht heute." In mir steigt das Gefühl auf, dass die Magcon Zeiten für ihn bereits abgeschlossen sind.

Gemeinsam schauen wir uns noch einige Familienfotos an. Zu manchen erzählt Shawn eine kleine Geschichte. Die Bilder, auf denen Aaliyah und ihr Bruder zu sehen sind, gefallen mir am meisten.

"Irgendwie habe ich an deiner Schwester einen Narren gefressen", überlege ich mit gerunzelter Stirn. "Mehr als an mir?", fordert mich Shawn heraus. "Keine Angst, das funktioniert überhaupt nicht", lache ich. Ich lache, um die Wahrheit hinter dieser Aussage zu vertuschen.

"Victoria?", fragt der Junge neben mir nach einiger Zeit, in der wir einfach nur nebeneinander saßen, "würdest du heute vielleicht hier bleiben?"

Unsicher blicke ich ihn an. "Ich...Es klingt schon ziemlich blöd, wenn ich jetzt sage, dass ich nicht mit meiner Vergangenheit alleine einschlafen will, oder?", schaut Shawn an die Decke.

"Hey, überhaupt nicht", lächel ich einfühlsam, "manchmal habe ich auch solche Tage. Ich rufe nur eben Ava an, damit sie sich keine Sorgen machen muss."

Als ich von meinem Telefonat zurück komme, höre ich ein gleichmäßiges Atmen. Der Braunhaarige liegt zu einem Embryo zusammen gerollt auf seiner Bettdecke. Mit einem entspannten Gesichtsausdruck schläft er bereits.

Leise lasse ich mich neben dem Bett nieder. Ich kann mir vorstellen, wie erschöpfend die Tage sind, wenn man Shawn Mendes heißt. Ohne ihn zu wecken beobachte ich ihn, während ich meine Arme auf der Bettkante aufstütze. Solange bis meine Augen ebenfalls zufallen.

Meant To Be \\ Shawn MendesWo Geschichten leben. Entdecke jetzt