Kapitel 96

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Am nächsten Morgen bemerkte ich, dass ich nicht mehr alleine im Zimmer war. Vermutlich waren Liam und Audra irgendwann in der Nacht hinzugekommen. Audra schlief unruhig neben dem Bett auf ihrer Luftmatratze, während Liam neben mir in dem großen Bett lag. Ruhig atmend schlief er.

Eine kurze Weile noch betrachte ich die beiden und konnte es für einen Moment kaum fassen, dass ich es tatsächlich zu ihnen zurück geschafft hatte. Aber bestimmt würde sich einiges zwischen uns verändert haben. Seit dem wir in Frieden im Haus gelebt hatten, war einiges passiert. Wir waren gewaltsam voneinander getrennt worden, hatten unser Zuhause verloren. Und Aldric war tot. Das konnte nicht so einfach spurlos an uns vorbeiziehen. Die Frage war nur, inwiefern sich das auf uns auswirken würde oder sich vielleicht sogar schon ausgewirkt hatte. Ich war definitiv nicht mehr die Selbe, seit Liam und ich aus dem brennenden Haus geflohen waren. Seither war viel geschehen.

Natürlich freute ich mich, die beiden wiederzusehen. Doch etwas war anders. Und dieses Gefühl war nichts, das man so leicht ignorieren und beiseite schieben konnte. Es war mehr als präsent. Es stimmte mich nachdenklich. Würde es zwischen uns dreien jemals wieder so sein, wie früher? Ehrlich gesagt bezweifelte ich das.

Lautlos verließ ich das Bett und streifte mir frische Klamotten über. Die Tür knarzte kein bisschen, als ich sie vorsichtig hinter mir zu zog, als ich das Zimmer verließ. Das ganze Cottage war in Stille gehüllt. Scheinbar schließen die anderen alle noch.

Still bewegte ich mich über die Treppenstufen nach unten und suchte nach der Küche. Es stellte sich heraus, dass diese sich genau gegenüber des Wohnzimmers befand. Die Tür zu letzterem war nur angelehnt, weshalb ich bemerkte, dass drei Personen auf den Sofas schliefen. Eine auf der langen Seite des L und eine auf der kurzen. Die dritte Person schlief auf einer Luftmatratze. Bei ihnen handelte es sich um Mikéle, James und meinen Bruder. Wo die anderen Jäger schliefen, wusste ich nicht, zumal Harlan und seine Familie das zweite Schlafzimmer zugewiesen bekommen hatten.

Ich wandte mich von ihnen ab und betrat die Küche. Eigentlich sollte es mich nicht überraschen, dass Kieran bereits wach war. Er wirkte nicht gerade wie ein Langschläfer. Schweigend saß er an dem quadratischen Küchentisch, der sich genau in der Mitte der Küche befand. In seiner linken Hand befand sich ein Glas Wasser. Seine Augen glitten zu mir, sobald ich eintrat.

Er sagte nichts, nickte mir bloß knapp zu. Eigentlich hatte ich gedacht, dass er, nachdem er mir gestern Nacht so viel über sich offenbart hätte, deutlich offener mit mir umgehen würde. Aber das hier war wohl seine Art.

»Morgen.«, sagte ich kurz angebunden. Meine Art war es wohl auch nicht. Die wohltuende Kälte empfing mich, sobald ich den Kühlschrank öffnete. Wunderbar. Wie ich so etwas vermisst hatte. Zugleich überkam mich eine schmerzliche Wehmut. Nie wieder würde es so werden, wie damals. Liam, Audra, Aldric und ich würden nie wieder wie eine richtige Familie gemeinsam am Küchentisch im Golden Quarter sitzen. Aldric war für immer von uns gegangen und das Haus war zerstört.

Außerdem hatte ich einen Teil meiner alten Familie wiedergefunden. Doch noch immer wusste ich nicht, was ich jetzt in Bezug auf Lucius tun sollte. Ganz klar bereute er, was er getan hatte. Aber das bedeutete noch lange nicht, dass ich ihm verzeihen konnte. Dabei wusste ich noch nicht einmal, ob ich das überhaupt wollte. Was er getan hatte, war unverzeihlich. Lucius hatte mich nach seinen Vorstellungen formen wollen. Entgegen meines Willens. Er hatte mich auf die schlimmste Weise hintergangen, die ich mir vorstellen konnte.

Kieran sprach nicht, doch sein forschender Blick war nur zu deutlich spürbar. Obwohl er mir bisher nicht sonderlich emphatisch erschienen war, wirkte er, als wüsste er, dass mich etwas beschäftigte. Manchmal war das unheimlich. Gestern war es ähnlich gewesen. Ich hatte kein Wort sagen müssen und er hatte sofort erahnt, was in mir vorging. Hatte sogar die richtigen Worte gefunden.

Freya Winter - MutantWhere stories live. Discover now