Kapitel 39

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Kapitel 39

Erschrocken sog ich die Luft ein und ich sah, wie Liam erbleichte. Wieso standen die Severos denn so früh auf? Sie konnten so lange schlafen wie sie wollten! Immerhin hatten sie nichts zu tun. „Macht jetzt!", zischte Kieran, riss die Tür auf und schubste uns aus dem Haus. Hinter uns warf er die Tür wieder zu. Kaum eine Sekunde später, ertönte eine laute, wütende Stimme. „39, was machst du einen solchen Krach?! Du weckst die ganzen Nachbarn auf! Warst du etwa draußen?!" Kurz darauf ertönte ein lauter Schlag, doch ich hörte Kieran nicht schreien. Er tat mir leid. Es war unsere Schuld, dass er nun geschlagen wurde und vermutlich eine unschöne Strafe bekam. Doch ehe ich noch weiter darüber nachdenken konnte, zog Liam mich weiter. „Jetzt komm!", flüsterte er und schob mich auf den Zaun zu. „Wir müssen weg!" Er griff nach den Stangen des Zauns und zog sich geschickt hoch. Schnell war er wieder auf der anderen Seite angelangt und stand wieder unten. „Jetzt mach schon!"

Ich konnte Kieran nicht helfen, ohne selbst in Schwierigkeiten zu geraten. Das war mir bewusst. Und deswegen würde es ihm auch nichts bringen, wenn ich hier weiter tatenlos herumstehen würde. Widerwillig ergriff ich die Stäbe und kletterte flink hinauf. Schneller als Liam gucken konnte, stand ich auch schon wieder neben ihm. „Los!", sagte er und gemeinsam rannten wir zurück zu dem Haus von Audra und Aldric. „Hast du den Schlüssel?", fragte ich und blendete das Gebrüll der Severos aus dem Haus nebenan aus. „Ja, ja.", murmelte Liam und kramte in seiner Hosentasche. Er zog den Schlüssel heraus und steckte ihn hastig in das Türschloss. Mit einem leisen Klick öffnete sich die Tür und wir beide huschten hinein. Hinter uns schloss ich die Tür und wir beide lehnten mit klopfendem Herzen an der nun geschlossenen Tür. Liam atmete tief ein und aus. „Das war knapp.", sagte er. Ich konnte nur nicken. Es war mehr als nur knapp gewesen! Plötzlich ging das Licht an und eine verschlafen aussehende Audra stand in einem hellblauem Morgenmantel vor uns. Ihr rotes Haar hatte sie unordentlich zu einem Dutt hochgesteckt und müde blinzelte sie uns an. In ihrer Hand war ein Glas Wasser zu sehen. „Wo seid ihr gewesen?", fragte sie. Ihre Stimme war leise und noch ein wenig kratzig. Auf Grund des Lichtes musste sie noch einmal blinzeln. „Nicht so wichtig.", sagte Liam und stieß sich von der Tür ab. „Mach dir keine Sorgen. Es ist alles in Ordnung." Er grinste sie an. Audra war wohl noch zu müde, um genauer nachzudenken, denn sie tapste auf nackten Füßen die Treppe hinauf, zurück in ihr Bett.

„Wenn sie erst einmal richtig wach ist, können wir uns auf ein Verhör einstellen.", sagte ich. Liam zuckte mit seinen Schultern. „Haben wir was falsches gemacht?" Ich schüttelte meinen Kopf. „Siehst du."; sagte Liam. „Wovor also sollten wir uns fürchten? Wir sind ja nicht einmal erwischt worden." Streng genommen sind wir genau das. War es egoistisch von mir, zu hoffen, dass Kieran nichts verraten würde? Obwohl er bestraft wurde? Wegen uns? Ich verbot mir diesen Gedanken. Ich konnte es sowieso nicht ändern. „Alles gut bei dir?", fragte mich Liam und ich bemerkten seinen besorgten Blick auf mir. „Ja. Wieso fragst du?" Ich sah ihn an.

„Nur so.", sagte Liam. „Du hast so nachdenklich gewirkt." Er beobachtete mich weiterhin still. Genervt verdrehte ich meine Augen. Weshalb sollte etwas nicht gut bei mir sein? Wir hatten die kleine Maschine deaktiviert und waren noch relativ rechtzeitig entkommen. Und Audra war noch zu müde um uns irgendetwas zu fragen. Vermutlich hatte sie nicht einmal wirklich realisiert, dass wir weg gewesen sind. Wenn wir Glück hatten, würde sie nach dem Aufwachen glauben, sie hätte geträumt und Liam und ich müssten uns nicht einmal ihrem Verhör stellen.

Wieder schweiften meine Gedanken zu dem Mutanten von nebenan. Wie hielt er das alles nur aus? Er hatte mehr Zeit bei den Wissenschaftlern verbracht, als Liam oder ich. Er war bei Menschen gefangen, die ihn wie einen Sklaven behandelten. Die ihn behandelten, als sei er Dreck. Abfall. Wie konnte er noch weiter machen? Was hielt ihn davon ab, nicht einfach aufzugeben? Sich selbst aufzugeben? Weshalb war er noch kein Wrack, wie andere Mutanten, die ich gesehen oder von denen ich gehört hatte? Kieran schien mir noch immer selbstbewusst und ungebrochen. Er ließ sich nicht runter ziehen. Für uns hatte er sogar eine Strafe auf sich genommen. Er hätte uns auch einfach nicht warnen können und zulassen können, dass die Severos uns erwischten. Schließlich hatte er das bekommen, was er wollte. Die Kontrolle über seine Fähigkeiten. Weshalb hatte er uns geholfen? Kieran war eine starke Person. Das konnte ich bereits jetzt schon sagen. Auch, dass seine Freunde, die er damals wohl gehabt hatte, vor alle dem, ziemliches Glück gehabt hatten, ihn an ihrer Seite zu haben. Kieran war wohl eine dieser Personen, die durch all diese Katastrophen, noch stärker geworden waren. Und damit meinte ich nicht bloß seine durch Mutation erhaltenen Fähigkeiten. Dennoch war das alles nicht spurlos an ihm vorbei gezogen. Das zeigte dieses Misstrauen, das Kieran selbst uns gegenüber gezeigt hatte. Und auch, wie distanziert er sich verhielt. Hinzu kam diese Aufmerksamkeit, mit der er alles und jeden zu beäugen schien. Er schien niemals aufzuhören, aufmerksam zu sein. Als erwartete er hinter jeder Ecke den Feind. So war es nun einmal auch. Die Jäger konnten überall sein. Sie konnten jeder sein. Und sie waren hier. Sie waren eine greifbare Bedrohung. Greifbarer, als der ein oder andere Mutant wohl dachte. Sie stellten wohl die größte Bedrohung dar.

„Irgendetwas beschäftigt dich doch.", stellte Liam fest. „Das sehe ich dir doch an. Und jetzt sag nicht wieder, es sei nichts. Dafür kenne ich dich mittlerweile bereits zu gut, Frey." Wir liefen in Richtung Treppe, dorthin, wo Audra wieder hoch verschwunden war. Noch immer spürte ich seinen Blick auf mir. Da es sowieso keinen Sinn machte, wieder zu beteuern, dass nichts war, entschied ich mich dazu, ihm einfach zu sagen, was mich beschäftigte. „Dieser Kieran.", sagte ich und machte eine kurze Pause. „Er hat es so viel schlimmer als wir. Und er ist immer noch nicht kaputt. Und er hat uns nicht verraten. Er hat die Strafe auf sich genommen, obwohl er uns nicht einmal kennt. Obwohl er bereits das hatte was er wollte. Wieso?" Vielleicht wusste Liam eine Antwort darauf. Immerhin hatte Liam einige Zeit bei Clarks gelebt. Während ich anfangs nur von Aldric wie Dreck behandelt wurde und zusätzlich noch Audra hatte, die nett zu mir gewesen war.

Liam seufzte. „Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass ich mich oftmals davon abhalten musste, den Clarks nicht an die Kehle zu gehen. Da war immer so eine Wut in mir, die sich immer und immer mehr aufstaute. Ich habe es gehasst. Ich habe alle gehasst." Er machte eine kurze Pause. „Aber ich glaube, noch mehr gehasst habe ich es, dass ich mich nicht verteidigen durfte. Ich habe Probleme gehabt, mich zurück zu halten." Nachdenklich blickte er in die Ferne. Wieder begann er zu sprechen. Sein Tonfall war ernst. „Ich glaube, wäre ich noch länger geblieben, wäre ich vollkommen verdorben. Die Wut und der Hass hätten mich aufgefressen. Vermutlich hätte ich irgendwann etwas vollkommen Dummes getan, das mir mein Leben gekostet hätte." Liam sah mich wieder an. „Kieran hat auf jeden Fall eine viel bessere Selbstbeherrschung als ich, damals. Und ich glaube, würde ich noch immer bei den Clarks wohnen, wäre es mir egal gewesen, ob andere fremden Mutanten nun erwischt worden wären, weil ich nicht einsehen würde, auch noch ihre Strafe auf mich zu nehmen.", beendete Liam seine kleine Rede. Liam war ehrlich. Sehr ehrlich. Vor allem mit seiner letzten Aussage. Wir beide schwiegen und hingen unseren Gedanken nach. Ich vermutete, dass er genau wie ich über Kieran nachdachte. Ich konnte ihm ansehen, dass Liam ihn ein wenig bewunderte. Er hatte ziemlich viel Respekt vor ihm und wie er mit der Situation umging. Wir erreichten unsere Zimmer. „Wir haben noch ein paar Stunden, bevor wir eigentlich aufstehen müssten.", stellte Liam fest. „Wir sollten versuchen noch ein wenig zu schlafen oder uns wenigstens auszuruhen. Wer weiß, wann wir unsere Energie brauchen." Damit hatte er natürlich recht. Aber ich glaubte nicht, noch schlafen zu können. Zu viele Gedanken plagten mich. Doch ich nickte. „Schlaf gut.", sagte ich.

„Du auch.", sagte Liam, wuschelte mir noch einmal mit seiner Hand grinsend durch mein silbernes Haar, ehe er hinter seiner Zimmertür verschwand. Noch einige Sekunden stand ich still vor seiner Tür, ehe ich mich in mein eigenes Zimmer verzog und mich in mein Bett legte. Ich blickte nach oben an die Decke. Irgendetwas sagte mir, dass es nicht mehr allzu lange dauern würde, bis sich etwas in unserem Leben verändern würde. Vermutlich würde es etwas mit den Jägern zu tun haben. Und vielleicht würde auch Kieran eine Rolle spielen. Wer wusste das schon? Doch eines konnte ich mit Sicherheit sagen: Die sogenannte Ruhe in unserem Leben würde bald ein Ende haben.

Freya Winter - MutantWhere stories live. Discover now