Kapitel 20

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Kapitel 20

Das Geräusch eines Motors ertönte ungefähr am Nachmittag.

„Sie sind wieder da.", bemerkte Liam. Ich nickte, warf aber dennoch einen misstrauischen Blick nach draußen. Irrte ich mich, oder sah ich da zwischen den Villen ein paar Gestalten durch huschen? Ach was, ich wurde ja schon paranoid. Ich schüttelte meinen Kopf, um diesen Gedanken zu vertreiben. Lächerlich.

„Wir sind wieder da!", rief Audra aus der Eingangshalle. Ich hörte das dumpfe Geräusch ihrer Tasche, als sie diese auf dem Boden abstellte. Sie lachte. „Wisst ihr was? Da war vorhin so ein Mädchen, die hat ernsthaft gefragt, ob wir einen Sohn hätten!" Sie lachte erneut. Liam und ich warfen uns bedeutsame Blicke zu. Brenda. Sie war wegen Liams Auftritt vorhin misstrauisch geworden.

„Was hast du geantwortet?", fragte ich langsam.

Aldric lachte leise. „Ich habe sie zur selben Zeit gefragt, ob Audra Hunger hat und sie hat ja gesagt! Das Mädchen dachte, dass Audras Antwort auf ihre Frage bezogen war!" Er lachte weiterhin.

Liam, wie auch ich atmeten erleichtert aus. So hatten wir einen Überraschungseffekt, wenn Ambrosia glaubte, hier würde nur ein Mutant leben.

Nun warfen sich Audra und Aldric Blicke zu, als sie unser merkwürdiges Verhalten bemerkten. „Was ist los?", fragte Audra. „Irgendetwas habt ihr doch."

Liam räusperte sich. „Das Mädchen, könnte das Mädchen sein, das Freya angegriffen hat." Bei seinen Worten wurden Audra und Aldric kreidebleich. Aldric fielen klirrend die Haustürschlüssel aus der Hand.

„Wie bitte?", keuchte Aldric.

„Ich hoffe, ich habe mich nur verhört!" Audra starrte uns an. Ich jedoch schüttelte den Kopf. „Tut mir leid, Audra. Leider hast du dich nicht verhört."

Liam sah mit finsterer Miene aus dem Fenster. „Ambrosia hat uns gefunden."

Audra sah so aus, als würde sie gleich in Tränen ausbrechen. „Aber ... Ihr seid doch meine Kinder! Sie dürfen mir euch nicht wegnehmen!"

Es war, als würden Audras Worte mein kaltes Herz erwärmen. Sie sah uns als ihre Kinder an. Es war, als hätte ich eine Mutter. Zwar nicht meine Mutter, aber eine Mutter. Und Audra war so etwas wie meine Mutter.

„Wegnehmen wäre ja noch nett ausgedrückt.", brummte Liam schlecht gelaunt. Wenn er so drauf war, sollte man aufpassen was man zu ihm sagte, damit er nicht wütend wurde. Ich verdrehte meine Augen. „Mach nicht gleich die Stimmung kaputt."

Liam schnaubte. „ICH mache die Stimmung kaputt? Nein, Freya! Ambrosia macht die Stimmung kaputt!" Ja, er war wütend. Mission gescheitert. Doch konnte ich es ihm verübeln? Nicht wirklich. „Es ist IMMER Ambrosia!" Liam wandte sich ab und verschwand nach oben. Dabei verschwand wirklich jeglicher Rest von ehemaliger guter Laune.

Audra seufzte. „Ich gehe ihm hinterher und beruhige ihn." Sie warf mir noch kurz einen Blick zu, ehe sie nach oben verschwand. Nun waren nur noch Aldric und ich übrig.

Dieser schüttelte in Gedanken versunken den Kopf. „Ambrosia." Schwermütig blickte er aus dem Fenster. Dann sah er zu mir. „Ambrosia wird euch nicht töten, Freya. Nicht, solange ich da bin." Er nickte mir kurz zu, ehe er Audra folgte.

Wieder einmal wurde mir klar, was für ein Glück ich hatte, bei Audra und Aldric gelandet zu sein. Gewaltiges Glück. Auch wenn es vielleicht nicht mehr von langer Dauer sein würde. Immerhin konnte ich später sagen, dass ich – obwohl ich ein Mutant war – ein gutes Leben gehabt hatte.

Ich hatte damals eine wundervolle Familie gehabt, auch wenn wir so unsere Probleme mit unserer Mutter gehabt hatten. Erst wenn man etwas verloren hatte bemerkte man oft erst leider zu spät, wie viel es einem bedeutet hatte. Selbst obwohl meine Mutter jahrelang nicht die beste Mutter gewesen war, bedeutete sie mir etwas. Ich vermisste sie. Ich vermisste sie alle. Mum, Dad. Lucius. Wie mein Zwillingsbruder wohl mit der Sache umging? Ich konnte es nicht sagen. Um genau zu sein, wusste ich nichts über ihn. Klar, ich wusste, wie er damals gewesen war, doch das bedeutete noch lange nicht, dass ich sagen konnte, wie oder gar wer er heute war. Er konnte heute eine komplett andere Person sein und ich würde es nicht einmal wissen. Das war frustrierend. Doch ich zwang mich nach vorne zu sehen. Na ja, was hieß hier nach vorne sehen? Ich wusste nie, ob ich den morgigen Tag noch erleben würde. Erstens wegen Ambrosia und zweitens, da ich nicht wusste, wie alt ich werden würde, oder ob ich überhaupt alt werden würde. Wer konnte mir bitte schon sicher sagen, wie lange Mutanten zu leben hatten? Hinzu kam noch, dass alle Mutanten verschieden waren, da sie alle andere Spritzen bekommen hatten. Und ja, das waren viele Spritzen. Ich vermochte nicht zu sagen, wie viele Kinder damals entführt worden waren. Sie kamen von überall auf der Welt. Viele.

Freya Winter - MutantWo Geschichten leben. Entdecke jetzt