Kapitel 23

6.1K 519 35
                                    

Kapitel 23

Sie hatten von jeden einzelnen Mutanten eine eigene Akte. So auch von mir. Brenda würde bereits jetzt schon über die genannte Zahl nachdenken und würde ihre Bedenken irgendwann ihren Jägerkameraden erzählen. Und dann würden sie noch mehr darauf aus sein, Mutantin Nummer 93 zu töten. Doch Liam wollte ich damit jetzt nicht konfrontieren. Er hatte im Moment ganz andere Sorgen. Und ich war schließlich auch nicht vollkommen hilflos. Im Gegenteil. Ich konnte gefährlich sein, wenn ich wollte. Und dafür musste ich nicht einmal meine menschliche Seite abstellen. Auch mit meinem Gewissen würde ich keine Probleme haben. Menschen verdienten es nicht, dass ich wegen ihnen ein schlechtes Gewissen bekam. Zumindest nicht die, die Mutanten ohne mit der Wimper zu zucken töteten.

Und auch wenn Liam es nicht wusste, er würde nicht alleine bei den Jägern sein. Ich würde von oben darauf achten, dass niemand ihm etwas tun würde. Selbst wenn das bedeuten würde, ich selbst würde hingerichtet werden. Liam, wie auch Audra und Aldric gehörten zu mir. Sie waren wie eine Familie für mich, während ich meine eigene Familie vermutlich nie wieder in meinem Leben sehen würde. Sie waren die Stützen, die mich aufrecht erhielten, während wir uns alle gegenseitig stützten. Sie brachten mich dazu, nicht aufzugeben und nicht vollkommen durchzudrehen und einfach meine Menschlichkeit auszuschalten, um nicht mehr wie ein Mensch fühlen zu müssen, denn manchmal war das ziemlich ätzend.

Man schien es Liam nicht anzumerken, doch auch er vermisste seine Familie, auch wenn er nicht gerne über sie sprach. Doch er wusste genau so gut wie ich, dass es klüger war, nicht zu ihr zu gehen. Hinter seinem Lächeln versteckte sich manchmal die Trauer über die Menschen, die er verloren hatte. Und weder Audra und Aldric, noch ich konnten ihm diese Trauer nehmen. Umgekehrt mit war war es genau so. Doch wir waren stark. Wir lebten unser Leben, das uns noch geblieben war, lebten im Moment.

„Scheint so, als würden wir noch viel vor uns haben.", unterbrach Liam die Stille, die sich im Raum ausgebreitet hatte wie kalte Luft.

„Ja, scheint so.", stimmte ich ihm gedankenverloren zu.

Er stemmte sich mit seinem Arm hoch und sah zu mir. „Wir werden nicht sterben, Freya. Wir sind die ganzen Jahre über nicht gestorben. Also werden wir auch jetzt nicht sterben!" Dieser Lebenswille von ihm war überwältigend. Er war gewaltig und wenn Liam sich vornahm, weiter zu leben, würde er es auch. Seine Augen blitzten mich vertrauensvoll an und ein leichtes Lächeln legte sich auf meine Lippen.

„Wir werden leben."

„Das ist die richtige Einstellung!", sagte Liam grinsend und wuschelte mir mit seiner Hand durch das silber-weiße Haar.

Wir beide waren nicht gewillt zu sterben. Wir würden für unser Leben kämpfen, selbst wenn das heißen würde, dass wir flüchten müssten. Wir würden uns nicht unterwerfen, würden uns verteidigen, sollte Ambrosia angreifen. Wir würden nicht kampflos untergehen. Sie würden uns im Gedächtnis behalten als die Mutanten, die nicht zurück schreckten, als man sie angriff. Wir würden uns wehren. Selbst wenn das bedeuten sollte, dass man uns hinrichten würde. Wir würden es schaffen. Wozu hatten wir unsere Fähigkeiten und unsere Sinne? Auch wenn es Geräte gab, die diese unterdrücken würden, würden wir nicht aufgeben! Wenn wir schon lebten, würden wir es auch nicht aufgeben! Wir kämpfen!

Liam grinste, als er meinen entschlossenen Gesichtsausdruck sah. „So gefällst du mir! Du wirst genauso wenig wie ich aufgeben, oder?"

Ein Grinsen erschien auf meinem Gesicht und ich schüttelte den Kopf. „Nein. Nein, wir werden ganz sicher nicht aufgeben! Und wir werden auch angreifen, wenn man uns keine Wahl lässt! Wir werden uns nicht unterdrücken lassen, wie so viele andere es mit sich tun lassen!"

Liam streckte mir seinen kleinen Finger entgegen. „Schwörst du es? Dass wir aufeinander aufpassen und für unser Leben kämpfen? Selbst wenn es gefährlich ist?"

Ich harkte meinen kleinen Finger bei seinem ein. „Ich schwöre es."

„Ich schwöre es ebenfalls.", erwiderte Liam und wir blickten uns beide voller Entschlossenheit in die Augen. Eine Weile verharrten wir so, dann zogen wir beide unsere Finger zurück.

„Aufrüsten?", fragte Liam.

„Aufrüsten!", bestätigte ich. Wir beide erhoben uns blitzschnell vom Sofa und waren auch schon aus dem Salon verschwunden. Es gab keine Anzeichen, die darauf hinwiesen, was hier vor wenigen Sekunden für ein Versprechen gegeben wurde.

Ich huschte wie ein heller Blitz durch das Haus, riss die Schränke der Küche auf, während meine Finger geschickt Messer herausfischten, ohne auch nur irgendeinen Laut zu machen. Kurz checkte ich was für Messer ich da herausgezogen hatte und steckte mir diese an den Gürtel und in die Schuhe. Audra hatte vor ein paar Jahren extra Kampfmesser geholt, für den Fall, dass uns Ambrosia finden sollte. Als Nachbarn sie darauf ansprachen, sagte sie bloß, dass ihr Küchenmesser nicht scharf genug seien und sie deshalb diese holte, damit sie das Gemüse besser zerteilen konnte. Merkwürdigerweise hatte man ihr diese Lüge geglaubt, was vermutlich daran lag, dass alle Audra sowieso schon seltsam fanden und nichts mehr sie überraschen konnte, was Audra tat.

Kleine Messer, Sichelmesser, alles war dabei, was gut versteckt werden konnte. „Kartoffelmesser.", hatte Audra zu Mrs Richman gesagt, als diese die Sichel förmigen Messer gesehen hatte. „Zum Kartoffel schneiden."

Doch sie hätte eigentlich nicht einmal eine Erklärung gebraucht, um diese Messer zu kaufen. Es waren unsichere Zeiten. Mittlerweile gab es beinahe in fast jedem Haushalt die ein oder andere Waffe. Sei es, um gegen angreifende Mutanten oder Einbrecher zu kämpfen. Die Welt hatte sich verändert. Und daran war nichts zu ändern. Es hatte vor Jahren schon begonnen, wie ein laufendes Uhrwerk. Und alles hatte mit Ambrosia begonnen. Ambrosia war daran schuld. Sie konnten ihre Schuld nicht von sich schieben. Auch nicht, wenn sie ihre misslungenen Experimente dafür beseitigten. Es war geschehen und nicht mehr zu ändern. Glaubten sie wirklich, es würde alles wieder wie damals sein, wenn sie uns töteten? Sie hatten uns entführt. Sie hatten uns unseren Familien entrissen. Sie sollten uns endlich in Ruhe lassen.

Mit den Messern kehrte ich zurück in den Salon, den zeitgleich mit mir auch Liam betrat.

„Und? Hast du sie gefunden?", fragte er mich. Zur Antwort wirbelte ich eines der Messer mit meiner linken Hand durch die Luft.

Liam pfiff beeindruckt. „Respekt.", sagte er.

„Und du? Hast du sie gefunden?", stellte nun ich die Frage.

Liam grinste. „Was glaubst du denn?" Er zog einen der Wurfsterne hervor, die Aldric gekauft hatte. Diese waren ebenso wie meine Messer speziell. „Ich glaube, wir sind bereit. Selbst wenn sie unsere Fähigkeiten unterdrücken könnten, würden wir keine Probleme haben."

Egal was für Geräte die Jäger besitzen würden, um unsere Fähigkeiten und Instinkte auszuschalten, um uns kampfunfähig zu machen, wir würden nicht aufgeben. Wir würden kämpfen. Für unser Leben!

Freya Winter - MutantWhere stories live. Discover now