Kapitel 50

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Kapitel 50

„Du bist nicht Freya, okay?" Lucius war aufgesprungen und nahe an den Käfig heran getreten. Wütend sah er mich an. Der Zorn funkelte in seinen grünen Augen und ließen sie giftig erscheinen. „Meine Schwester ist tot. Meine Zwillingsschwester. Es war schmerzhaft genug, das zu begreifen. Und jetzt kommt noch so eine Mutation wie du an es reicht auch nicht, dass du so aussiehst wie sie! Als wäre das nicht schon schmerzhaft genug für mich! Nein! Du musst mir ja auch noch klar machen wollen, dass du meine tote Schwester bist!" Er war noch näher an den Käfig heran getreten. Ich wollte weinen. Doch ich hatte schon so viele Tränen fließen lassen. Noch mehr konnte ich nicht gebrauchen. „Weißt du, was du bist? Eine Mutation. Eine Mutation und nicht mehr. Eine im Labor geschaffene Mutation, für die meine Schwester sterben musste.", sagte Lucius mit einem Hass in der Stimme, der mich umhaute. „Ich weiß nicht einmal, wieso ich dich bis jetzt am Leben lassen habe! Du bist nicht Freya. Und du hast auch keinen Namen. Also lass es gefälligst, dich so zu verhalten, als seist du ein Mensch! Denn das bist du nicht! Du bist 93. Bloß eine Nummer von viel zu vielen." Angewidert sah er mich an. „Und du hast niemanden. Du hast keine Familie. Du bist eine Erfindung, ein Experiment von Wissenschaftlern. Ein furchtbar schief gelaufenes Experiment!" Lucius entfernte sich von den Gitterstäben. Ich zog mich wieder in meine kleine Ecke zurück und wünschte mir einen Ort, an dem mich niemand sehen könnte. Leider hatte Liam alles mit angesehen, wie ich jetzt bemerkte. Er war nämlich aufgewacht. Traurig sah er mich an. „Da.", sagte ich tonlos. „Du hast gewollt, dass ich mit ihm rede. Das habe ich getan. Und wie du siehst, ist es schief gelaufen. Wie ein furchtbar schief gelaufenes Experiment."

„Sag doch so etwas nicht ...", murmelte Liam und wollte mich umarmen, doch ich rutschte von ihm weg. „Lass es. Bitte lass es einfach. Es bringt doch sowieso nichts.", sagte ich.

„Freya ...", murmelte Liam, doch war still, als er meinen Blick sah. Ich wandte mein Gesicht ab und lehnte meinen Kopf an die Gitterstäbe. Schaute hinaus. Hinaus in den Wald. Die Regierung würde uns finden, wenn sie uns nicht bereits gefunden hatten. Sie würden die Mutanten finden wollen, die ihre Agenten getötet hatten. Kieran hatte immer noch ihr Blut an sich kleben. Und Liam war wie auch ich noch voller Ruß. Was wollten die Jäger eigentlich mit uns machen? Sie konnten uns nicht mitnehmen. Mit uns im Gepäck würden sie nur unnötig lange brauchen, bis sie ihre nächsten Opfer gefunden hatten. Sie würden uns töten. Und ich wettete, dass es Lucius nicht einmal selbst tun könnte. Er sollte mir gefälligst ins Gesicht sehen, wenn ich starb. Denn dann sah er seine Schwester tatsächlich sterben. Und er würde die Schuld tragen. Sollte sie ihn doch erdrücken. „Du fühlst dich wieder kalt an.", kam es auf einmal von Kieran. Ich hatte überhaupt nicht gemerkt, dass er aufgewacht war. Er zog seine Hand zurück. „Dir scheint es wieder gut zu gehen." Er musterte mich. „Zumindest sollte es so sein. Ist etwa wieder was gewesen?" Er schielte zu Lucius, der in die Asche des erloschenen Feuers blickte. „Wegen ihm? - Ach, was frage ich überhaupt?" Kieran seufzte und starrte nach oben. Versuchte zwischen all den Blättern ein Stück Himmel zu sehen. „Wir sind so gut wie tot.", murmelte er. „Die Regierung wird uns bald finden, wenn sie es nicht bereits getan hat." Er seufzte und ließ seine Arme auf den Boden sinken. Er fing wieder an, das Gras heraus zu rupfen, als wartete er nur darauf, dass bewaffnete Männer das Lager stürmen und und erschießen würden.

„MUTATIONEN!", brüllte Jo auf einmal über den Platz. „SIE KOMMEN!" Sie stürmte los und griff nach einer Waffe. Plötzlich war niemand mehr am Schlafen. Die Jäger rannten über den Platz, suchten nach Waffen. Und dann kamen sie. Eine Gruppe von Mutanten. Ich konnte sie nur anstarren. Mutanten, die gegen Jäger kämpften! Ich war fasziniert. Ohne jegliche Waffen stürmten sie das Lager, knurrten, zischten und fauchten. Irgendwer von den Jägern schrie. Doch selbst von hier aus konnte ich sehen, dass die Jäger unterlegen waren. Es waren zu viele Mutanten. Mit einem, vielleicht zwei oder drei von ihnen hätten sie es aufnehmen können. Aber auf keinen Fall mit elf von ihnen. Einer von ihnen erblickte uns in unserem Käfig und schrie es den anderen zu, die sofort alle zu uns sahen. Erkannte ich da Angst in Lucius' Augen? Hatte er etwa Angst, dass sie uns befreiten und ich gehen würde? Genau das war der Moment, indem ich meine Entscheidung fällte. Meine Überlebenschancen standen von Anfang an nicht gerade gut. Also konnte ich genauso gut bei den Jägern bleiben. Entweder sie, die Mutanten oder die Agenten der Regierung würden mich töten. Also, was hatte ich schon groß zu verlieren? Die Mutanten überrannten die Jäger förmlich. Sie schrien sich verzweifelt Hilferufe zu. „Freya, was ... ?", fragte Liam, als ich mich erhob. „Legt euch auf den Boden.", befahl ich.

„Was? Wieso?", fragte Kieran skeptisch.

„Tu's einfach!", zischte Liam ihm zu und legte sich schnell hin. Kieran seufzte und tat es ihm gleich. Ich spürte die Kälte, die sich ausbreitete. Und ich war mir der Konsequenzen bewusst. Die Temperatur fiel rasant steil nach unten. Das ließ die gegnerischen Mutanten, wie auch die Jäger innehalten. Alle sahen sich suchend nach der Quelle der extremen Kälte um und ihre Blicke blieben an mir hingen. Eis schlängelte sich die Gitterstäbe hinauf. Ich brauchte nur die Hand nach den Stäben auszustrecken und sie zerbrachen splitternd unter meiner Berührung. Meine Augen glühten intensiv blau und ich bemerkte, wie sie sich veränderten und somit denen von Schlangen glichen. Ich trat aus dem Käfig heraus und schneller als die Jäger gucken konnten hatte ich zum Sprung angesetzt und flog auch schon durch die Luft, genau auf einen der Mutanten zu. Ich spürte, wie sich meine Haut veränderte. Wie die weißen Schuppen kamen und sich meine Eckzähne veränderten. Ich spürte das Gift. Mein Gift. Ich ignorierte den entsetzten Blick von Lucius und auch den von allen anderen Jägern. Ich packte den Mutanten am Genick und schleuderte ihn einige Meter beiseite. Es knackte, als dieser gegen einen Baum knallte. Bei diesem Geräusch erwachten die anderen Mutanten aus ihrer Starre. „TÖTET SIE!", schrie einer. „TÖTET SIE, VERDAMMT!" Bei den Mutanten brach Panik aus. Sie stürzten sich alle auf mich, Krallen schlitzten meine Haut. Zähne schnappten nach mir. Dem Mutant, der mir am nächsten war, schlug ich meine Giftzähne in die Halsschlagader. Der Mutant riss entsetzt die Augen auf und begann zeitgleich schrill zu schreien. Er würde leben. So ein kleines bisschen Gift, wie ich ihm verabreicht hatte, würde ihn nicht umbringen. Nur für eine Zeit lang außer Gefecht setzen. Schnell ließ ich von ihm ab und wich geschickt zurück, als einer seiner Freunde mit einem Messer nach mir stach, das er anscheinend einem der Jäger abgenommen hatte. Ich breitete meine Arme aus. Vor mir bauten sich die restlichen Mutanten auf. Sie funkelten mich böse an. „Versucht es nur.", zischte ich gehässig grinsend. „Kommt her, wenn ich euch traut." Verärgert knurrten sie und setzten zum nächsten Angriff an. Doch dazu würde es nie wieder kommen. Der Boden unter ihnen gefror und ehe sie sich auch nur hätten bewegen können, schossen Eispflöcke aus dem Boden und trennten sie von den Jägern und mir. Sie gaben keinen Ton mehr von sich. Geschockt starrten sie mich an. Ich ließ meine Arme sinken. Wenn ich Glück hatte, würden sie jetzt gehen. „Sucht euch andere Jäger.", sagte ich. „Diese könnt ihr nicht haben." Ehe ich mich versah, hatten sie die Flucht vor mir ergriffen. Doch irgendetwas hatte ich übersehen. Es war ein merkwürdiges Gefühl. Stirnrunzelnd sah ich mich um und bemerkte den letzten, den elften Mutanten, der genau vor meinem Bruder stand, die Zähne fletschte und mit seinen Krallen ausholte. Lucius hatte keine Waffe in der Hand. Nein! Nein, dazu würde es nicht kommen! Lucius würde nicht vor mir sterben! Blitzschnell stand ich hinter dem Mutant, ein Eisdolch formte sich in meiner Hand, den ich ihm in die Schulter rammte und daran zurück zog. Stöhnend sank er zu Boden, ehe er hastig aufsprang und wie die anderen vor ihm das Weite suchte. Lucius starrte mich entsetzt an. Der Schock stand ihm ins Gesicht geschrieben. Sein Mund stand ihm offen. Schockiert starrte er die weißen Schuppen an, die meine Haut ersetzt hatten. Starrte auf die giftigen Zähne, die einen Mutanten tödlich vergiftet hatten und starrte in meine Augen, die denen von Schlangen ähnelten. Er zitterte unter meiner Kälte, die ich nun langsam zurück zog. „Nur dieses eine mal.", flüsterte ich. „Weil du mein Bruder bist." Mit diesen Worten drehte ich mich um und stieg zurück in den nun kaputten Käfig.

Freya Winter - MutantWo Geschichten leben. Entdecke jetzt