Kapitel 89.2

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Nachdenklich grummelnd massierte Samuel seine Nasenwurzel. „Und wie sollen wir das Zeug verteilen, ohne erwischt zu werden? Wir würden sofort eingesperrt werden, oder noch schlimmer." An sich fand ich den Aspekt mit dem Erwischt werden nicht weiter problematisch. Als Mutant sollte das eigentlich recht gut zu bewältigen sein. Manche von uns waren wirklich schnell. Nachts könnten wir die Plakate anbringen und die Flugblätter in die Briefkästen werfen. Und Mutanten wie Kieran bräuchten sich noch nicht einmal zu beeilen. Sie würden nämlich gar nicht erst gesehen werden. Aber Kieran war nicht hier.

Aber all diese Überlegungen brachten ohne fertige Plakate und Flugblätter gar nichts. Schweigend betrachteten wir die dritte Skizze. Es war, als hätten wir uns abgesprochen. Niemand wollte mehr etwas zu den Problemen, die dieses Vorhaben bereiten würde, sagen.

Sofort sprangen mir die Wörter „Recht auf Freiheit" und „Recht auf gleiche Rechte" ins Auge. Darunter war eine Schar von Mutanten zu sehen. Allesamt verschieden. Doch alle schienen aus dem Bild hinaus zu sehen, genau in die Augen des Betrachters.

„Wenn wir das nicht drucken können, müssen wir es halt selber machen.", ertönte plötzlich eine Stimme. Augenblicklich lagen alle Blicke auf der Person, die das gesagt hatte. Im Türrahmen stand Elliot. „Ihr macht euch Probleme, wo gar keine sind." Entschlossen kam er auf uns zu und warf einen kurzen Blick auf Sanyas Skizzen. Anerkennend nickte er. Dann sah er auf und seine gelben Augen wandert wanderten eindringlich über jeden Einzelnen. „Wenn euch schon ein so kleines Hindernis solche Probleme bereitet, werden wir niemals unser Ziel erreichen. Wir könnten genauso gut aufgeben und uns still und leise in die Schatten zurückziehen."

Schweigend wurde Elliot von Samuel und Enya angeschaut. „Weißt du, wie viel Zeit es in Anspruch nehmen würde, unzählige Plakate und Flugblätter zu schreiben und zu zeichnen? Und die Plakate benötigen schon eine gewisse Größe ...", gab Samuel zu bedenken.

Genervt schnaubte Elliot und verschränkte die Arme vor seiner Brust. „Im Moment sind wir zehn Personen." Er warf Lucius und mir einen kurzen Seitenblick zu. „Und selbst wenn die drei bald wieder verschwinden, sind wir immer noch zu siebt.", sagte er energisch. „Außerdem reicht es, wenn wir die Plakate nur an gut besuchten Orten aufhängen, wo möglichst viele Leute sie sehen werden. Und die Flugblätter müssen gar nicht in jedem verdammten Briefkasten der Stadt liegen. Es reicht, wenn wir sie einfach gut verteilen und vielleicht auch der ein oder anderen einflussreichen Person zustecken. Die Adresse von ein paar Schauspielern und Politikern und was-weiß-ich-noch sind doch längst nicht mehr geheim. Außerdem werden sie so viel Aufruhr verursachen, dass sie sich verselbstständigen werden. Menschen werden sie sich untereinander zeigen und im Internet verbreiten. Ob sie uns damit nun absichtlich helfen oder nicht, spielt keine Rolle. Letztlich ist es am Ende gut für uns. Und wahrscheinlich erreichen wir somit auch noch Menschen in anderen Städten und vielleicht sogar welche, am ganz anderen Ende des Landes oder sogar der Welt."

Beeindruckte, aber auch überraschte Blicke lagen auf Elliot. Scheinbar hatten sogar die Leute, die Elliot kannten, nicht damit gerechnet. Aber es stimmte, was Elliot sagte. Auf einmal hatte die Überlegung mit den Plakaten und Flugblättern viel mehr Gestalt angenommen. Jetzt war es nicht mehr bloß ein Vorschlag, es war ein Plan.

„Du bist wirklich gut, Elliot.", meinte Samuel und nickte nachdenklich.„Wieso haben wir nicht daran gedacht?" Er sah etwas so aus, als würde er sich dafür schämen, auf keine Lösung gekommen zu sein. „Es tut mir leid, dass du mich dabei erwischt hast, so an einer kleinen Sache zu scheitern. Dabei bin ich doch sozusagen für euch alle verantwortlich ..." Nicht nur sozusagen. Immerhin führte er diese Gruppe an. Er war jemand, zu dem man aufsah. Jemand, von dem man erwartete, dass er einen Plan hatte.

Elliot jedoch winkte ab. „Ach, macht nichts. Du musst das alles immerhin nicht allein bewältigen. Wir alle würden dir ohne zu zögern helfen. Keiner würde dir deswegen Vorwürfe machen. Enya und du habt viel für uns alle getan. Außerdem kann niemandem vorgeworfen werden, alles perfekt zu machen."

Überrascht sah ich ihn an. Ich hatte ihn bisher ganz anders eingeschätzt. Aber das lag vermutlich an unserer weniger gut verlaufenden ersten Begegnung. Gerührt lächelte Enya. „Ach, Elliot ...", sagte sie leise. Auf einmal sah sie noch müder aus als zuvor. Ich mochte mir gar nicht vorstellen, wie viel sie auf sich nahm, um alle, denen sie in diesem Haus Zuflucht gewährte, zu ernähren und gleichzeitig auch noch bei ihrem Vorhaben helfen konnte. Musste sie nicht völlig am Ende ihrer Kräfte sein? Enya war um die Mitte zwanzig. Vielleicht war sie noch in der Ausbildung oder hatte diese gerade abgeschlossen. So weit ich wusste, war das Gehalt zu diesem Zeitpunkt nicht gerade hoch. Eventuell war dieses Haus schon abbezahlt, da sie es von einem Familienmitglied übernommen haben könnte, dennoch kamen bestimmt noch Unmengen an anderer Kosten hinzu. Es war mir ein Rätsel, wie sie das alles hinbekam.

„Okay.", begann Enya zu überlegen. „Was bräuchten wir denn alles?"

Sofort meldete sich Sanya zu Wort. „Nun, natürlich bräuchten wir erst einmal genug Papier, bestenfalls Pappe. Die für die Plakate, braucht auf jeden Fall eine bestimmte Größe. Aber das können wir später noch überlegen. Immerhin muss es groß genug sein, damit es nicht übersehen wird und die Leute es sich ansehen. Die Flugblätter können DinA4 oder kleiner sein. Dann bräuchten wir noch Stifte. Die Farben müssen kräftig sein und die Aufmerksamkeit der Leute auf sich ziehen."

Nickend kratzte Samuel sich am Kinn. „Filzstift und Edding?", fragte er.

„Preislich können wir uns vermutlich nicht mehr leisten.", stimmte Enya zu.„Acrylfarben fallen schon einmal weg, obwohl mir die besser gefallen würden. Aber die fände ich auf einer Leinwand sowieso schöner."

Sanya wirkte nicht sehr begeistert. „Filzstift ist nicht so mein Fall. Aber was will man machen.", sagte sie und zuckte mit ihren Schultern.

„Aber wie machen wir das mit den Plakaten?", dachte Samuel nach. „Wenn es regnet, durchweicht die Pappe."

„Wie wäre es mit Stoff?", schlug Enya vor. „Wenn wir dafür auch noch die richtigen Stifte finden ... So teuer kann das doch nicht sein, oder?" In Gedanken versunken war jeder mit sich selbst beschäftigt. Nur Lucius und ich warfen einander einen kurzen Blick zu. Das war jetzt nicht mehr unsere Sache, sondern eine unter den Bewohnern dieses Hauses, zumal wir nicht einmal vorhatten, lang zu bleiben.

Auch, wenn es mir schon in den Fingern juckte, zu helfen. Ihr Eifer war ansteckend. Aber ich konnte nicht bleiben. Ich musste die anderen wiederfinden. Sie machten sich bestimmt Sorgen. Und Liam machte sich bestimmt große Vorwürfe. Vor allem ihm gegenüber wäre es nicht fair, wenn ich ihn länger als nötig im Dunkeln tappen ließ.

Und auch Lucius wollte unsere Rückkehr vermutlich nicht allzu lange herauszögern. Schließlich konnte ich mir nicht vorstellen, dass er sich unter all den Mutanten hier allzu wohl fühlte. Auch, wenn es seit unserer Ankunft vielleicht ein bisschen besser geworden war. Immerhin hatte Elliot ihn nicht mehr so angesehen, als wollte er ihm an die Kehle gehen. Dennoch änderte das nichts an der Tatsache, dass mein Bruder jahrelang ein Jäger gewesen war und unsere Art verfolgt und getötet hatte. Und nun saß er hier in einem Haus mit Mutanten, die für ihre Freiheit kämpfen wollten. In wie weit sich Lucius' Denkweise, was uns anging, schon geändert hatte, konnte ich nicht sagen. Natürlich war es nicht zu bestreiten, dass er nun anders dachte. Hauptsächlich wohl wegen mir. Aber wie schnell konnte man eine bestimmte Denkweise ablegen, die einen schon so viele Jahre begleitete?

Freya Winter - MutantWhere stories live. Discover now