Kapitel 95.7

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Als er meinen Blick sah, zupfte ein finsteres Grinsen an seinen Mundwinkeln. »Ja, mit drei Jahren bekam ich das Serum verabreicht. Ich erinnere mich noch zu gut an die grauenhaften Schmerzen und wie sehr ich mich vor den Räumen außerhalb meines Zimmers gefürchtet habe. So etwas brennt sich in das Gedächtnis eines kleinen Kindes. Immer, wenn einer der Assistenten mich aus meinem Zimmer in den Untersuchungsraum bringen wollten, habe ich geschrien wie am Spieß und um mich getreten. Du kannst dir vorstellen, dass ich als Kleinkind, das seine Kräfte noch nicht einschätzen konnte, so manchem Assistenten den Kiefer gebrochen habe.« Bei letzterer Erwähnung wirkte er tatsächlich sehr zufrieden. »Doch immer wieder schafften sie es, mich auf die Liege zu schnallen, sodass ich mich nicht rühren konnte. Sie hatten recht schnell heraus, wie sie ein kleines Kind dazu bringen konnten, sich vor Angst nicht mehr zu rühren.« Er sprach doch nicht etwa von Folter? Die Wissenschaftler hatten es doch wohl nicht gewagt, ein Kleinkind zu foltern?

Aber er ging nicht weiter auf die Details ein. Unbeirrt fuhr Kieran fort: »Die ersten neununddreißig Mutanten waren der erste Testdurchlauf. Ständig wurden mir Proben entnommen, die sie analysiert haben. Da ihnen meine Werte anscheinend so gut gefielen, setzte sich in einer der Wissenschaftlerinnen die Idee fest, mehr mit mir zu machen, als mir bloß ein Chamäleon-Serum zu injizieren. Der eine Erfolg hat ihr nicht gereicht. Sie wollte mehr. Wollte wissen, wie weit sie gehen konnte.« Kierans Hände ballten sich zu Fäusten. Seine Knöchel malten sich deutlich unter seiner Haut ab. »Ich war etwa vier oder fünf, als das neue Serum fertiggestellt wurde.« Kurz hielt er inne, überlegte, wägte ab. »Es verstärkte meine Mutation. Vorher hatte sie sich nur darin geäußert, dass ich mit meiner Umgebung verschmelzen konnte und meine Augen deutlich schärfer geworden waren. Doch nun ...« Erneut brach Kieran ab, betrachtete mich. Er tat mir so unfassbar leid. Er war wie eine Laborratte aufgewachsen. Hatte vielleicht während seiner Kindheit niemals die Sonne gesehen. War von allen anderen isoliert. Er war schon immer der Ausgestoßene gewesen. War immer anders, niemals als normales Kind behandelt worden. Er hatte niemals so etwas wie die Liebe eines Vaters oder einer Mutter gespürt. Niemals Freude und Glück.

Blieb er deshalb bei uns? Weil er sich endlich irgendwo zugehörig fühlte oder so etwas wie Kameradschaft verspürte?

»Bei dem zweiten Serum blieb es nicht.«, sagte Kieran.

»Was?«, fragte ich fassungslos. Mir war erst vor kurzem ein zweites Serum verabreicht worden und es reichte mir vollkommen. Und dennoch kam ich nicht umher, mich zu wundern, weshalb Kieran dann – im Gegensatz zu mir – immer noch wie ein Mensch aussah, wenn er nicht gerade seine Farben änderte.

Ein raues Lachen ertönte. »Man verabreichte mir ganze fünf Seren, sodass mich, als ich sieben Jahre alt war, nicht einmal mehr ein Maschinengewehr töten konnte. - Und ja, das haben sie später versucht.« Genugtuung zuckte über seine Züge. Gepaart mit Hass wirkte Kieran hier im Dunkeln der Schatten beinahe dämonisch.

Entsetzt starrte ich ihn an. »Sie haben auf dich geschossen?«, entfuhr es mir lauter als eigentlich beabsichtigt. »Wieso?« Darüber, was genau Kieran damit meinte, dass ihn nicht einmal ein Maschinengewehr töten konnte, wollte ich gar nicht nachdenken.

Ein Grinsen, das dem eines Teufels würdig war, legte sich auf sein Gesicht. »Sie haben zu spät gemerkt, dass sie eine Bestie erschaffen haben.«, antwortete er. Und da war sie wieder: Diese schreckliche Gleichgültigkeit. Zum ersten Mal kam mir in den Sinn, dass sie vielleicht reiner Selbstschutz war. Oder ein letztes Überbleibsel aus der Zeit, in der Kieran sich seiner Gefühle entledigt hatte.

»Du bist keine Bestie.«, erwiderte ich.

»Ach, wirklich?« Grinsend schüttelte Kieran seinen Kopf. »Du hast keine Ahnung, wovon du sprichst, Freya. Du kennst mich nicht gut genug. Aber dafür erzähle ich dir das alles schließlich. - Stell dir ein Kind vor, das ohne Zuneigung und in vollkommener Isolation aufwächst. Ein Kind, das nicht gelernt hat, was Moral ist. Ein Kind, das niemals wie ein Mensch behandelt wurde, sondern wie Dreck. Eine Ratte, die austauschbar ist. Deren einziger Wert seine Mutation ist, die es noch mehr von allen anderen unterscheidet. Ein Kind, das mithilfe von Folter dazu gebracht wurde, sich nicht gegen den Willen der Wissenschaftler zu wehren. - Glaubst du wirklich, dass ein solches Kind nicht zu einer Bestie heranwächst?« Ehrlich interessiert sah er mich an. Erwartete eine Antwort, die ich ihm nicht geben konnte. Schweigend senkte ich meinen Blick und war damit nicht besser als Liam, der meine Veränderung nicht verstand.

»Ich erzähle dir das alles nicht, damit du mir nachher einzureden versuchst, dass ich keine Bestie bin. Ich weiß was ich bin. Und das ist vollkommen in Ordnung.«, sagte Kieran. »Eines Tages hatte ich genug. Genug davon, mich dem Willen der Wissenschaftler zu beugen und eingesperrt zu sein. Ich wollte frei sein. Also riss ich meine Tür aus den Angeln und griff die Wissenschaftler und die Assistenten an. Sie hatten keine Chance. Ich war nicht mehr länger das harmlose Chamäleon-Kind, nein. Sie hatten mit eigenen Händen ein Biest geschaffen, das sie nicht mehr vernichten konnten. Als bereits die erste Hälfte von ihnen tot war, schaffte es einer, ein Maschinengewehr zu greifen, das der tote Sicherheitsmann fallengelassen hatte. Nicht eine Kugel hatte es geschafft, meinen Körper zu durchbohren. Nicht eine.«

»Du...«, ich suchte nach dem richtigen Wort. Das, was er mir da gerade erzählte, war unfassbar. Natürlich hätte man das vor ein paar Jahren auch noch von den Mutanten gesagt, doch das hier war etwas Anderes. Hier wurde nicht nur ein Körper genetisch verändert, er wurde unverwundbar gemacht. Unzerstörbar. »Kann dir nichts etwas anhaben?«

»Nichts.«, bestätigte Kieran. »Vermutlich fragst du dich, weshalb ich dir das alles erzähle.« Tatsächlich lag er richtig. Was er mit den Worten, mit denen er dieses Thema überhaupt eingeleitet hatte, sagen wollte, hatte ich verstanden. Wir waren beide Experimente. Mehr noch als die anderen. Das verband uns. Das machte uns in gewisser Weise zu Außenseitern. Doch wir waren nicht allein. Aber warum er mir diesen  Teil aus seiner Vergangenheit erzählt hatte, wusste ich nicht.

»Die Experimente haben uns verändert. Sie haben uns stärker gemacht. Und in den Augen der Menschen gefährlicher. Aber es ist vollkommen egal, was sie denken. - Was alle denken, ist egal.«, sprach Kieran mit ernster Stimme. Seine dunklen Augen hielten mich fest im Griff. »Es ist ein Unterschied, ob sie dich eine Bestie nennen oder ob du auch wirklich eine bist. Aber selbst das ist letztendlich nicht wichtig, denn das bist immer noch du. Du musst akzeptieren, was passiert ist. Denn du kannst es nicht ändern. Mach es zu deiner Stärke, nutze es zu deinem Gunsten. Aber du darfst niemals vergessen. Sonst endest du wie die Elitesoldaten. Nur ihr Wunsch und ihre Verzweiflung treiben sie an. Sie haben vergessen. Und darum dienen sie jetzt den Menschen, die sie eigentlich hassen sollten. Den Menschen, die Schuld an ihrer Situation sind. Vergiss niemals, wer du bist.«

Noch nie hatte ich seine Augen als so eindringlich erlebt. Mir hatte es tatsächlich die Sprache verschlagen. Ich fand einfach keine Worte. Also nickte ich nur leicht und Kieran wirkte zufrieden. Er erwartete keine Antwort. Darum drehte er sich wieder zur Tür, ehe er noch einmal innehielt.

»Egal was man dir antut, vergiss niemals, wer du bist und wer dir das angetan hat. Das kann dich eines Tages retten.«, sagte er mit gesenkter, aber bestimmter Stimme. »Vielleicht erzähle ich dir eines Tages vom Krieg.« Mit diesen Worten ließ er mich aufgewühlt in der Dunkelheit des Zimmers zurück und schloss die Tür hinter sich.

In dieser Nacht schlief ich nicht gut.

Freya Winter - MutantWo Geschichten leben. Entdecke jetzt