Kapitel 85.2

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So etwas hatte ich noch nie zuvor gesehen. Natürlich war mir bewusst gewesen, dass es viele verschiedene Arten von Mutanten gab. Doch musste ich mir die Frage stellen, weshalb die Wissenschaftler von Ambrosia diese Frau so geschaffen hatten. Ursprünglich waren die Mutanten dafür geschaffen worden, Arbeiten besser erledigen zu können. Mir war voll und ganz klar, dass Ambrosia damals keine Ahnung hatte, was mit den Kindern geschah, sobald ihnen das Serum gespritzt wurde. Dennoch gab es in mir eine leise Ahnung, dass diese Fremde für den Krieg erschaffen worden war. Mit ihren Fähigkeiten hätte sie dem Militär von großem Nutzen sein können. Aber was für eine Art von Mutation hatte sie? Irgendeine Tier-DNA musste ihr gespritzt worden sein. Aber welche?

Auch Varya und mein Bruder starrten die Fremde erstaunt an, ehe sie sich gemeinsam den Polizisten auf der anderen Seite der Brücke widmeten. Da Varya sehr schnell war, hatte sie keinerlei Probleme zu der Barrikade der Polizisten zu gelangen. Diese hatten, nachdem sie gesehen hatten, was mit den Polizisten auf der gegenüberliegenden Seite geschah, angefangen eine Mauer aus Streifenwägen zwischen ihnen und uns zu errichten.

Im Gegensatz zu Varya war Lucius nicht sonderlich schnell. Er bewegte sich mit Vorsicht auf die Barrikade zu. Besonders die Waffen der Polizisten behielt er im Blick. Aber deren Aufmerksamkeit lag hauptsächlich auf Varya, da sie ihnen wie die weitaus größere Bedrohung erschien.

Als ich mir sicher sein konnte, dass Lucius nicht in Gefahr war, widmete ich mich dem Helikopter des Fernsehteams. Nachdenklich blickte ich hinauf. Von den Insassen durfte ich keinen verletzen. Das waren Zivilisten, die nichts mit der ganzen Sache zu tun hatten. Sie wollten lediglich berichten. Ob das nun gut oder schlecht war, war mir nicht möglich genau zu sagen. Doch wenn ich an den Zeitungsbericht dachte, den mir Varya bei Clausen überreicht hatte, vermutete ich wohl, dass dieser Bericht nicht gerade positiv für uns sein würde.

Schreie waren zu vernehmen. Die Schreie der Polizisten. Ebenso Pistolenschüsse. Doch davon durfte ich mich nicht ablenken lassen. Ich musste den Helikopter loswerden. Meine Augen huschten von den rotierenden Rotorblättern über die Fenster. Dann fiel mein Blick auf die Themse. Vielleicht würde das ausreichen. Nur wie sollte ich das bewerkstelligen, ohne jemanden zu verletzen? Bisher hatte ich meine Kräfte in solch einem Ausmaß immer nur benutzt, um irgendetwas zu zerstören.

Langsam breitete ich meine Arme aus, während ich den Helikopter fest im Blick hielt. Plötzlich fing die Temperatur an drastisch zu fallen. Eine hauchdünne Frostschicht legte sich auf den Boden und begann sich kriechend auszubreiten. Sie kletterte auf das Geländer, umhüllte die Brücke. Atemwölkchen erschienen vor meinen Augen. Meine Kälte breitete sich aus. Wie ein schweres Leinentuch legte sie sich über die Westminster Bridge und die Themse darunter. Augenblicklich begann das dreckige Wasser zu gefrieren und wurde zu einer dicken Eisschicht. Nur nebenbei bekam ich mit, wie die Polizisten sich Warnungen zuriefen und auf die gefrorene Themse zeigten. Aber was wollten sie schon dagegen unternehmen? Momentan hatten sie ganz andere Probleme. Und die fremde Frau war eines davon. Sie hatte bereits die meisten Polizisten auf ihrer Seite der Brücke ausgelöscht oder kampfunfähig gemacht. Die Verstärkung der Polizei, von der ich überhaupt nicht mitbekommen hatte, dass sie gekommen war, war keine Herausforderung für die Mutantin. Von ihnen waren nur noch zwei Leute da, die sich gar nicht mehr aus ihrem Wagen heraus trauten.

Im Gegensatz zu der Fremden tötete Varya überhaupt niemanden. Sie machte ihre Gegner lediglich kampfunfähig, während Lucius keinerlei Skrupel hatte zuzustechen. Anders als Varya war Lucius es aufgrund seiner Jagd auf Mutanten gewöhnt, jemandem das Leben zu nehmen, damit er selbst leben konnte.

Tatsächlich machte er hier keinen Unterschied zwischen denen, die er eigentlich gejagt hatte und den Menschen. Gerade jetzt in diesem Moment waren die Polizisten seine Feinde. Und dementsprechend handelte er. Für mich war es noch immer merkwürdig, meinen Bruder so zu sehen. Auch wenn ich wusste, dass es unsinnig war, erwischte ich mich ab und zu doch dabei, wie ich ihn mit dem Lucius verglich, den ich als Kind gekannt hatte.

Freya Winter - MutantWhere stories live. Discover now