Kapitel 90.2

2.1K 181 8
                                    

Elliot verzog gequält sein Gesicht. „Die meisten von ihnen sind tot.", eröffnete er mir mit gepresster Stimme. „Jules, mein ehemaliger Anführer, ist seine Stärke und unsere Erfolge zu Kopf gestiegen. Er wurde übermütig. Unvorsichtig. Und die anderen hat er damit angesteckt. Auf meine Warnungen haben sie nicht mehr gehört. Auf ihren Verstand leider auch nicht mehr." Die Trauer verfärbte seine gelben Augen dunkel. „Sie haben sich an etwas versucht, dem sie nicht gewachsen waren. Als sie dann auch noch ohne jede Vorsicht und Planung losstürmten, war das eigentlich schon ihr sicheres Ende." Elliot verstummte. Mehr wollte er dazu nicht mehr sagen. Zu frisch waren noch die Wunden. Außerdem waren das seine Gruppenmitglieder, seine Freunde, über die er sprach. Sie hatten ihm etwas bedeutet. Ihr Schicksal schmerzte ihn.

„Das hat mir gezeigt, dass ich so nicht weiter machen kann.", sprach Elliot leise. Sein Blick lag in weiter Ferne. Stille.

Bedrückt wagte es niemand, ihn anzusehen. Das musste so unvorstellbar hart sein. Ich konnte mir vermutlich gar nicht vorstellen, wie er sich fühlen musste. Natürlich steckte bei mir der Schmerz über Aldrics Verlust immer noch schwer in den Knochen. Aber irgendwie war es noch immer so unwirklich. Als wäre Aldric gar nicht tot. Für mich fühlte es sich merkwürdigerweise so an, als wäre er mal wieder auf einer Geschäftsreise.

Im Gegensatz zu mir hatte Elliot einen Großteil seiner Freunde verloren. Und in welchem Zustand auch immer die Überlebenden waren; sie hatte er zurückgelassen. Hatte sich für einen Neuanfang entschieden. Gegen seine übrigen Freunde.

„So.", ergriff Enya das Wort und klatschte entschieden in ihre Hände. „Ich würde sagen, dass wir dieses Thema besser ruhen lassen." Mit einem einfühlsamen und besorgten Blick auf Elliot fügte sie hinzu: „Wir alle sollten uns so langsam bettfertig machen. Morgen wird immerhin ein langer Tag: die Flugblätter müssen gemacht werden und auch ein oder zwei große Plakate. Außerdem müssen wir uns überlegen, wo wir diese aufhängen und wie wir das unbemerkt anstellen. Zudem sollten wir uns Gedanken darüber machen, wem wir Flugblätter zukommen lassen." Sie sah auf die Skizzen, die noch immer auf demTisch lagen. „Jedenfalls haben wir morgen eine Menge zu tun. Und wir müssen daran denken, dass die Stadt abgeriegelt wurde und nun mehr Polizisten unterwegs sind, was das Verteilen und Aufhängen deutlich schwieriger gestaltet, als es eigentlich wäre."

Zustimmend nickte Samuel. „Wir sollten jede Minute des Schlafes genießen. Ab morgen wird es anstrengend." Dann sah er zu Lucius, Varya und mir.„Außerdem müssen wir noch überlegen, wie wir euch aus der Stadt bekommen." Seine tiefschwarzen Augen wanderten zu mir. „Ich gehe mal davon aus, dass du ein bestimmtes Ziel vor Augen hast und dass du nicht allzu lange warten willst. Nicht wahr?", sagte er verständnisvoll.

„Das stimmt. Ich hoffe, das macht dir nichts aus.", meinte ich. Gerade jetzt, wo sie so viel zu tun hatten, brauchte Samuel jede helfende Hand. Und die Situation in der Stadt erschwerte ihm es nicht nur, seinen eigenen Plan in die Tat umzusetzen, sondern auch noch, uns aus der Stadt zu schmuggeln. Dabei waren wir ihm und den anderen so viel schuldig. Siebenundvierzig hatte uns auf der Brücke unter Einsatz ihres Lebens geholfen und anschließend hier her gebracht. Hier hatte man uns sofort aufgenommen. Wir waren ihnen etwas schuldig.

Samuel winkte ab. „Mach dir keine Gedanken darüber. Wir kommen auch alleine zurecht. Und wo auch immer du hin willst; es ist dir wichtig.", sagte er lächelnd. „Ich habe nur eine Bitte." Erneut drehte er sich zum Tresen und zog einen Stapel Blätter hervor. „Das sind ein paar der fertigen Flugblätter von Sanya. Könntet ihr die mitnehmen und auf eurem Weg verteilen?"

Sofort erwiderte ich sein freundliches Lächeln. „Natürlich.", sagte ich und nahm den Stapel entgegen. „Es freut mich, wenn ich euch trotzdem helfen kann." Das tat es wirklich. Obwohl wir Samuel und die anderen alleine lassen würden, konnten wir noch irgendetwas zu ihrer Arbeit beitragen.

„Morgen nach dem Frühstück setzen Varya, Lucius, du und ich uns dann mal mit Enya zusammen und überlegen, wie wir euch aus der Stadt helfen können.", entschied Samuel. Allerdings blieb sein Blick länger als nötig auf Varya liegen. „Hast du dich eigentlich schon entschieden?", wollte er wissen.

Zögerlich rutschte Varya auf ihrem Platz herum. Es war offensichtlich, dass ihr die Aufmerksamkeit nicht gefiel, die ihr nun zu Teil wurde. Außerdem sah ich ihr an, dass sie sich noch nicht entschieden hatte. Aber ihr sollte das nicht unangenehm sein. Ich konnte es nachvollziehen, dass sie sich erst einmal wieder daran gewöhnen musste, eigene Entscheidungen zu treffen.

„Noch nicht.", sagte Varya leise. Dabei sah sie auf ihre Hände. Mied jeglichen Blickkontakt.

Samuel winkte ab. Verständnisvoll sah er sei an. „Kein Problem.", meinte er. „Bis morgen hast du noch Zeit. Lass dir das alles noch mal in Ruhe durch den Kopf gehen." Unsicher nickte Varya. Aber sie sagte kein Wort mehr.

Enya erhob sich als Erste. Sogleich folgten ihr auch schon die anderen. „Gute Nacht.", wünschte Enya allen, ehe sie auch schon aus dem Wohnzimmer verschwand. Jade gähnte, strafte Lucius noch einmal mit einem bösen Blick und verschwand ebenfalls. Innerhalb einer Minute waren Lucius, Varya und ich mit Samuel allein im Raum.

„Wenn ihr Hilfe bei den Luftmatratzen braucht, sagt nur Bescheid.", bot Samuel uns an. „Leider haben wir hier nur eine einzige Luftpumpe und die ist etwa zwanzig Jahre alt." Beschämt grinsend zuckte ermit seinen Schultern.

„Das ist kein Problem. Dann brauchen wir nur etwas länger.", meinte Lucius und schnappte sich sogleich den zusammengeknüllten, grauenKlumpen. Doch Samuel schüttelte energisch seinen Kopf. „Nein, nein. Ich werde euch helfen.", erwiderte er. „Habt ihr was dagegen, wenn ich nebenbei den Fernseher laufen lasse? Es ist wichtig, die Nachrichten zu kennen."

Wir schüttelten die Köpfe, woraufhin Samuel nach der Fernbedienung griff und den Fernseher einschaltete. Tatsächlich fingen gerade dieNachrichten an. Augenblicklich war Samuel aufmerksam. Seine gesamte Konzentration lag auf der Nachrichtensprecherin. Sie war noch recht junge Frau. Dass sie das noch nicht lange machte, erkannte man an der leichten Unsicherheit, die sie zu unterdrücken versuchte. „Guten Abend. Es ist acht Uhr und hier sind die Nachrichten im Kurzüberblick: Frankreich warnt vor weiterer Zerstörung, Spanien fordert globale Hilfe für Mutanten, Milliarden für die Forschung, Angriff auf der Westminster Bridge." Während die Nachrichtensprecherin die Themen aufzählte, wurden verschiedene Aufnahmen gezeigt, du zu den jeweiligen Themen gehörten.

Samuel verzog das Gesicht. „Milliarden für die Forschung, ja?", knurrte er leise. „Für weitere Waffen und Technologien, die uns schaden können?" Niemand kommentierte das. Es war nichts Neues, dass dieRegierung an allem sparte, nur an der „Forschung" nicht. Dabei blieben allerdings Krankheiten und andere wichtige Dinge außen vor. Wütend schnappte er sich die Luftpumpe, ehe er realisierte, dass Lucius sie wahrscheinlich eher brauchte als er. Ohne ein Wort zu sagen überreichte er sie meinem Bruder. Dieser verkniff sich einen bissigen Kommentar.

„Nach der Zerstörung des Eiffelturms seitens der britischen Armee äußert sich Frankreichs Regierungschef nun." Im Hintergrund war ein heller Raum mit einem Rednerpult zu sehen, hinter dem die französische Flagge zu sehen war. Außerdem stand ein Mann Mitte fünfzig am Rednerpult. Ernst blickte er in die Kamera. Er sprach auf Französisch, doch dies wurde sogleich von einer Reporterin übersetzt. „Wir werden nicht zulassen, dass das noch einmal passiert. Sollte Großbritannien es noch einmal wagen, seine Zerstörungswut an uns und unseren Wahrzeichen auszulassen, nur weil ihm nicht gefällt, wie wir hier mit Mutanten verfahren, werden wir nicht zögern und zurückschlagen!" Samuel und ich warfen uns einen kurzen Blick zu. Das klang nicht gut. Es war kein Geheimnis, dass Frankreich gegen die Mutanten war, da man in uns eine Gefahr sah, die es auszulöschen galt. Irgendwo auf der Welt kämpften die Mutanten der britischen Armee gegen die Menschen und Technologien Frankreichs. Und unsere Länder waren bei weitem nicht die Einzigen, die sich in irgendeiner Weise am Krieg beteiligten. Noch hatte man noch nicht sonderlich viel davon mitbekommen. Es war immer nur in den Nachrichten davon zu hören. Aber irgendwann würde man den Krieg auch hier mitbekommen. Es war nur noch eine Frage der Zeit.

Freya Winter - MutantWhere stories live. Discover now