Kapitel 86.2

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Was mir sofort auffiel, war seine raue, hell graue Haut und seine vollkommen schwarzen Augen. Nicht einmal die Pupillen waren zu erkennen. Außerdem befanden sich links und rechts an seinem Hals jeweils fünf lange Schlitze. Kiemen.

„Siebenundvierzig, wer ist das?", fragte er mit solch einer Autorität in seiner Stimme, die mich überraschte. Hinter ihm hörte ich leises Gemurmel. Aber da er nach wie vor im Türrahmen stand, versperrte er die Sicht. Ich bemerkte, dass er angespannt war. Bereit, anzugreifen. Er misstraute uns.

„Mach dir keine Sorgen. Die sind in Ordnung.", versuchte Siebenundvierzig ihn zu beruhigen. Sie deutete auf Varya. „Das ist Varya Melnikova. Ihr Vater ist Mischa Melnikova." Ihr Finger wanderte zu mir. „Das ist Freya Winter." Schließlich deutete sie auf Lucius. „Und das Lucius Winter. Freyas Bruder. Ich habe ihnen auf der Westminster Bridge geholfen als sie Schwierigkeiten mit der Polizei hatten." Der großgewachsene Mann sah uns der Reihe nach an. Er musste in etwa in Siebenundvierzigs Alter sein. Vielleicht auch ein klein wenig älter.

„Habt ihr Gewalt angewendet?", fragte er. Sobald er den Mund aufgemacht hatte, erblickte ich eine Reihe spitzer Zähne. Siebenundvierzig nickte, woraufhin er seufzte. „War es notwendig?", wollte er resigniert wissen. Erneut nickte Siebenundvierzig.

Er wandte sich uns zu. „Ihr müsst wissen, dass wir Gewalt nur dann einsetzen, wenn es unbedingt notwendig ist. Normalerweise versuchen wir unsere Probleme mit Worten zu regeln. Schließlich kommt alles, was auch nur im entferntesten mit Mutanten zusammenhängt in die Zeitung. Demnach können wir es uns nicht leisten, dass die Menschen ein schlechtes Bild von uns haben. Sonst bekommen wir unseren Frieden niemals und unsere Freiheit sollte nicht auf Blut aufgebaut sein." Ich war erstaunt. Ehrlich gesagt war er mir anfangs so vorgekommen als würde er ... Ja, was eigentlich? Er wirkte gefährlich, keine Frage. Aber das musste nicht unbedingt bedeuten, dass er gewalttätig oder so wie Kieran war und auf einen Kampf bestand.

„Ich bin Samuel Bishop, Nummer einhundertsechsundsechzig.", stellte sich der junge Mann vor. „So gesehen leite ich das Ganze hier." Er lächelte uns freundlich zu. Bei seinen letzten Worten sank Lucius merklich in sich zusammen. Auch wenn ich noch immer wütend auf ihn und von ihm enttäuscht war, ich würde nicht zulassen, dass irgendein Mutant oder sonst jemand Lucius etwas antat. Darauf konnte er sich verlassen.

„Es freut mich, dich kennenzulernen.", sagte ich und erwiderte Samuels Lächeln.

Siebenundvierzig stellte sich neben ihn und zeigte stolz auf mich. „Freyas Nummer ist dreiundneunzig!", sagte sie verschwörerisch zu Samuel, der daraufhin erst eine Augenbraue hob und Siebenundvierzig ansah. Doch schließlich begann er die Bedeutung hinter Siebenundvierzigs Worten zu erfassen und ruckartig wandte er seinen Kopf mir zu.

„Dreiundneunzig?", platzte es fassungslos aus ihm heraus. Sogleich wurde auch das Gemurmel hinter ihm im Flur lauter. Mehrere fassungslose und ungläubige Stimmen erklangen und immer wieder hörte ich meine Nummer heraus. Mir war unklar, wie man nur so auf meine Nummer reagieren konnte. Schön, ich hatte die Labore von Ambrosia zerstört und hatte die Mutanten indirekt von ihren Peinigern erlöst, doch mehr steckte nicht dahinter. Ich hatte einfach nur meine Kraft auf alles losgelassen. Dennoch verstand ich nicht, weshalb man hier auf mich reagierte als sei ich sonst wie Besonders. Außerdem wunderte es mich, dass scheinbar jeder wusste, wer dreiundneunzig war und was ich getan hatte. Bei den Jägern und der Regierung konnte ich es ja noch verstehen, dass ich ihnen bekannt war, immerhin war ich in ihren Augen gefährlich, doch bei den Mutanten?

„Ist das wahr?", fragte Samuel hoffnungsvoll und machte einen Schritt nach vorne. „Bist du dreiundneunzig?"

„Das ist meine Nummer.", bestätigte ich und ehe ich mich versah, hatte Samuel mich vom Sofa und in seine Arme gezogen. Überrascht spannte ich mich an und verkrampfte mich leicht.

„Danke.", murmelte Samuel. „Danke, dass du uns da raus geholt hast! Ich weiß gar nicht, wie mich jemals dafür revanchieren kann!" Seine Umarmung war kräftig und kam mehr als unerwartet. Genauso wie sein Dank.

„Du musst dich für nichts revanchieren.", sagte ich. „Ich habe nichts anderes getan als die Einrichtung zu zerstören, sobald ich die Chance dazu hatte."

Erstaunt ließ Samuel mich los. Fassungslos sah er mir mit seinen abnormalen Augen in meine abnormalen Augen. Er sah genauso wenig menschlich aus wie ich.

„Ist das dein Ernst?" Er lachte fassungslos. „Du hast mir und vielen anderen das Leben gerettet. Ob du nun wusstest, was du tatest oder nicht. In dem Moment als du die Einrichtung zerstörtest, waren die Wissenschaftler dabei, mich zu töten. Ich war defekt. Du hast mir das Leben gerettet."

Jetzt war es an mir, fassungslos auszusehen. Nie hatte ich darüber nachgedacht, was meine Zerstörung der Ambrosia-Einrichtung für die anderen Mutanten bedeuten würde. In meinen Augen hatten sie dadurch die Möglichkeit erhalten, ihre Röhren zu verlassen. Außerdem hatte somit die Öffentlichkeit von uns erfahren und unsere Hoffnungen endgültig vernichtet.

Aber so wie Samuel es mir erzählte, hatte ich es nie betrachtet. Schließlich hatte ich das getan, was jeder andere an meiner Stelle auch getan hätte.

 Samuel wandte sich mit einem Lächeln an Lucius. „Dann bist du der Bruder.", sagte er. „Es freut mich zu sehen, dass du deine Schwester nicht verstoßen hast, wie ich sehe. Leider passiert das viel zu oft." Er seufzte tief. „Aber lassen wir dieses betrübende Thema. - Kann ich irgendetwas für euch drei tun? Habt ihr Hunger? Durst? Wir haben genug da. Wenn ihr wollt könnt ihr auch erst einmal hierbleiben und euch ausruhen. Ich denke, nach den Geschehnissen auf der Brücke könnte euch das gut tun." Jedoch wartete er gar nicht auf eine Antwort, sondern eilte sofort in die Küche, die nur mithilfe eines Tresens vom Wohnzimmer getrennt wurde.

Nun traten auch die ersten der anderen Mutanten ein. Deren Blicke fielen sofort auf uns drei, die auf dem Sofa saßen und sie fingen wohl an zu raten, wer von uns nun dreiundneunzig war. Bei den meisten von ihnen fiel es kaum auf, dass sie keine Menschen waren. Insgesamt hatten nun vier weitere Mutanten das Wohnzimmer betreten und begrüßten uns. Doch dann trat der Letzte der Gruppe ein.

Er war relativ groß, hatte chaotisches dunkelgraues Haar und gelbe Augen. An seinen Händen entdeckte ich Krallen. Als ich ihn wiedererkannte drohte mir ein Zischen zu entweichen. Doch ich unterdrückte es. Auch sein Blick verharrte auf mir, ehe er auch Lucius bemerkte. Ein kehliges Knurren entstieg seiner Kehle. Sofort lagen die Blicke der anderen Mutanten alarmiert und irritiert auf ihm.

„Elliot, ist alles in Ordnung?", fragte Samuel aus der Küche. Elliots Zähne verformten sich, wurden spitzer. Sein gelber Blick klebte an Lucius und mir. Auch Lucius schien den Mutanten nun erkannt zu haben.

„Scheiße.", hörte ich ihn leise murmeln und bemerkte aus dem Augenwinkel, dass er nach einer Waffe tastete, nur um festzustellen, dass er keine dabei hatte.

„Elliot?" Siebenundvierzig wollte sich ihm nähern, doch er stieß ein lautes Knurren aus. Sie blieb stehen. Lucius und ich hatten uns beide erhoben. Schützend stellte ich mich vor meinen Bruder. Wie war dieser Mutant hierher gekommen? Ich konnte mir nicht vorstellen, dass er schon damals zu Samuel und den anderen gehört haben konnte, denn Samuel akzeptierte Gewalt nur, wenn sie auch wirklich notwendig war. Es schien mir unwahrscheinlich, dass Samuel ein paar Mutanten losschickte, damit sie die Jäger jagten.

„Der da.", knurrte Elliot und deutete mit der Kralle an seinem Zeigefinger auf Lucius. „Das ist ein Jäger!" Augenblicklich lagen alle Blicke auf Lucius. Ungläubige Blicke.

„Was?", fragte Siebenundvierzig zweifelnd. „Bist du dir da wirklich sicher?"

„Oh ja.", sagte Elliot und warf Lucius einen vernichtenden Blick zu. „Er hat zu der Gruppe von Jägern gehört, die drei Mutanten in einem Käfig eingesperrt hatten. Und die da -" Er deutete auf mich. „- gehörte zu den Mutanten, die im Käfig eingesperrt waren. Wir wollte sie befreien, nachdem wir die Jäger getötet hätten. Doch sie hat sich selbst befreit und uns angegriffen!" Erneut stieß Elliot ein bedrohliches Knurren aus. Er hatte alle Muskeln angespannt. Ihm war anzusehen, wie gerne er sich jetzt auf uns stürzen würde. „Sie hat einen meiner Freunde vergiftet und mir einen Dolch in die Schulter gerammt!"

Freya Winter - MutantWhere stories live. Discover now