Kapitel 1

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Solange ich mich erinnern konnte, war ich schon immer ein zurückgezogenes Mädchen gewesen. Selbst damals, als noch alles gut war. Damals, als Mensch. Anderen Kindern hatte ich nur wenig Sympathie entgegengebracht. Dennoch hatte es welche gegeben, die ich von ganzen Herzen liebte.

„Freya! Freya!", hörte ich meinen Bruder rufen. Zu dem Zeitpunkt war ich sechs Jahre alt. Sofort blickte ich von meinem Bilderbuch auf. Meine grünen Augen fanden ihn sofort. Obwohl wir beide an diesem Tag in die Schule kommen sollten, weigerte ich mich noch immer stur, richtige Bücher zu lesen und widmete mich stattdessen weiterhin meinen Bilderbüchern. Nicht, weil mir richtige Bücher zu anstrengend waren und ich mich lieber an den vielen bunten Bildchen erfreute. Nein, meine Mutter hatte mir ein Versprechen gegeben. Und das bedeutete mir so unheimlich viel. Meine Mutter war eine beschäftigte Frau, ständig auf Reisen und ich glaubte, sie hatte bereits alle Ecken der Erde gesehen. Dennoch hatte sie mir versprochen, mir das Lesen beizubringen. Bisher war sie aufgrund ihrer Arbeit noch nicht dazu gekommen, da sie noch irgendetwas auf ihrer Arbeit zu erledigen hatte. Eigentlich war sie nie da, wenn ich so darüber nachdachte.

Aber ich war noch ein kleines Kind gewesen und wie ein Kind nun einmal war, strahlte meine Hoffnung hell. War nicht zu löschen, eine große Flamme, der nicht einmal Wasser etwas anhaben konnte.

Mein Bruder Lucius kam in unser Zimmer geschlittert. Er und ich waren Zwillinge, weshalb wir einander ziemlich ähnlich sahen. Wäre ich kein Mädchen gewesen, hätte ich so tun können, als sei ich sein Spiegelbild.

„Kommst du, Frey?" Aus großen runden Kinderaugen blickte er mich an. Sein tiefschwarzes Haar stand ungebändigt in alle Richtungen ab, dass man glauben konnte, er wäre in einen Sturm geraten. Einen Kontrast zu seinem dunklen Haar bildete seine helle Haut. Lucius war ein lebhaftes Kind. Zumindest, wenn es nur wir beide waren.

„Ja.", sagte ich und legte das Bilderbuch weg. Lucius konnte noch kurz einen Blick darauf werfen. Anklagend schüttelte er seinen Kopf.

„Dad sagt, du sollst anfangen zu lesen."

„Ich will aber nicht." Ich würde Mom nicht enttäuschen. Was, wenn sie zurückkehrte und feststellen musste, dass ich ohne sie angefangen hatte? Außerdem war das meine Gelegenheit, Zeit mit ihr zu verbringen. Sie hatte es versprochen und Versprechen wurden nicht gebrochen.

Auch mein Bruder sah schnell ein, dass ich da nicht mit mir reden lassen würde. Seufzend gab er nach und gemeinsam liefen wir in unser Wohnzimmer, um unserem Vater Bescheid zu geben, dass wir auf unserer Straße spielen gehen wollten. Unser Wohnzimmer war der größte Raum im Haus, aber meist spielten wir dort nicht. Laut unseres Vaters brachten wir solch ein Chaos, dass das Wohnzimmer nicht mehr als solchen zu erkennen sei, hätten wir erst einmal dort gewütet. Darum verlegten wir das meist auf unser Zimmer.

Unser Vater saß auf seinem Lieblingssessel vor dem Fernseher. Seinen Sessel hatte ich immer gemocht, da es sich anfühlte, als würde man sich auf eine Wolke legen, sank man in das weiche Polster ein. Außerdem hatte er eine Massagefunktion und das kitzelte immer so lustig.

Der Fernseher war ausgeschaltet. Stattdessen hielt unser Vater sein Tablet in der Hand. Eine hauchdünne Platte mit schneeweißer Rückseite, an die er uns nur noch unter seiner Beobachtung ließ, seit Lucius sie aus Versehen einmal fallen lassen und zerbrochen hatte.

Neugierig hing ich mich an die Rückenlehne des Sessels und zog mich hoch, um einen besseren Blick auf das zu werfen, was mein Vater gerade tat. Obwohl ich noch nicht lesen konnte, erkannte ich schnell, dass es sich um einen Zeitungsartikel handelte. Wie langweilig. Er hatte so vertieft darin ausgesehen, dass ich geglaubt hatte, er hätte vielleicht ein neues Spiel gefunden, das er mir irgendwann mal zeigen würde.

Freya Winter - MutantWhere stories live. Discover now