Kapitel 92.3

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„Guten Tag.", grüßte Bill jemanden, den ich nicht sehen konnte, freundlich.

„Guten Tag. Da Sie die Stadt verlassen wollen, muss ich Sie leider kontrollieren. Wegen des Vorfalls mit den Mutanten auf der Brücke, gestern.", erklang eine fremde Stimme.

„Ja, davon habe ich gehört.", sagte Bill. Seine Stimme klang bedrückt. „Es kam gestern Abend in den Nachrichten. Schrecklich."

„Oh ja. Könnte ich Ihren Ausweis sehen und würden Sie mir bitte sagen, was Sie außerhalb von London vorhaben?", fragte die Polizistin.

„Aber natürlich.", erwiderte Bill freundlich. Ich ging davon aus, dass er ihr seinen Ausweis reichte. „Ich bin im Auftrag von MaWiCon unterwegs."

„MaWiCon?" Die Polizistin klang überrascht.

„Genau. Mein Vater ist dort der Chef. Heute soll ich eine unserer Filialen außerhalb von London überprüfen.", log Bill.

„In Ordnung. Könnte ich dann auch noch den Ausweis Ihres Mitfahrers sehen?", wollte sie wissen.

„Natürlich.", meinte Bill. „Louis, dein Ausweis bitte." Einige Sekunden vergingen. Ich hörte Geraschel.

„Ähm, Mr Grayson, ich finde meinen Ausweis nicht.", gab Lucius leise zu. Auf einmal klang er wie eine ganz andere Person. Unsicher und verloren. Wie jemand weitaus weniger Gefährliches.

Bill gab ein tiefes Seufzen von sich. „Entschuldigen Sie bitte kurz." Dann wandte Bill sich an meinen Bruder. Leise, aber gut verständlich redete er auf Lucius ein. „Was soll das? Bitte sag mir nicht, dass du deinen Ausweis vergessen hast!" Bill klang überraschend streng.

„Ich glaube schon.", murmelte Lucius. Seine Stimme wirkte verunsichert und hektisch. Sie wirkte überhaupt nicht, als gehöre sie zu meinem Bruder.

Bill stöhnte. „Entschuldigen Sie. Er ist unser neuer Praktikant und bis jetzt wirkt er ein bisschen unorganisiert." Er klang missbilligend und genervt. Allerdings würde ich ihm das Ganze komplett abnehmen, wenn ich es nicht besser wüsste. „Muss er jetzt hier bleiben? Den Termin kann ich nicht verschieben."

„Das ist schon in Ordnung, Mr Grayson.", erwiderte die Polizistin. „Nur sollte Ihr Praktikant in nächster Zeit seinen Ausweis immer dabei haben."

„Aber natürlich. - Hörst du das Louis? Ausweis mitnehmen!"

„Ja, Mr Grayson. Wird nicht noch mal vorkommen.", murmelte Lucius bedrückt.

„Nun muss ich Ihren Kofferraum kontrollieren.", sagte die Polizistin.

„Aber sicher." Es wurde wieder still. Die Polizistin musste jetzt vom Fenster weg gegangen sein. Kurz darauf vernahm ich das Geräusch eines sich öffnenden Kofferraums. Hoffentlich kam sie nicht auf die Idee, dass sich unter dessen Boden jemand befand. Sonst hätten wir ein großes Problem. Zumindest wusste ich, dass Sanya und Jade irgendwo in der Nähe waren. Sollte etwas schief gehen, würden sie für Ablenkung sorgen.

Anschließend wurde der Kofferraum nach eingehender Betrachtung wieder geschlossen. Allerdings kam die Beamtin nicht sofort wieder ans Fenster. Also ging ich davon aus, dass die Polizistin einmal unter den Wagen schaute und durch die Fenster hineinsah. Dennoch war ich erleichtert. Sie hatte keinen Hinweis auf das Versteck gefunden.

„Ich wünsche Ihnen dann eine angenehme Fahrt.", verabschiedete sich die Polizistin schließlich.

„Vielen Dank.", sagte Bill. Der Motor startete wieder und das Auto fuhr los. Dennoch wagte es niemand, zu sprechen. Das Hindernis war endlich überwunden. Wir waren aus London raus. Jetzt mussten wir uns nur noch überlegen, wo wir die Anderen finden würden. Und wie wir überhaupt zu ihnen kommen sollten. Zumal wir unterwegs auch noch die Flugblätter verteilen mussten, ohne eine Spur zu hinterlassen.

Nach einigen Kilometern stoppte das Auto. Das leichte Wackeln verriet mir, dass Bill und Lucius ausstiegen. Kurz darauf wurde der Beifahrersitz verschoben und ein Teil des Bodens des Kofferraums wurde geöffnet. „Wir haben es geschafft!", sagte Bill sichtlich zufrieden. „Du kannst nun heraus kommen."

„Bill, hier ist jemand!", versuchte mein Bruder Bill aufzuhalten. Es klang mehr nach einem Zischen. „Sie kann noch nicht raus!" Bill winkte unbesorgt ab.

„Keine Sorge. Die gehören zu mir." Mir gefiel das gar nicht. Ich wusste nicht, wo wir waren. Außerdem steckte ich noch immer in dem engen Spalt fest. Wie viele Leute hatte Lucius da draußen gesehen? Hatte Bill uns letztendlich doch in eine Falle gelockt? Alles in mir spannte sich an. Die Temperatur sank. Das bemerkte auch Bill.

„Bitte beruhige dich, Fenya. Dir wird nichts geschehen.", versuchte er mich zu beruhigen. Ich war kurz davor, mein Eis durch das Metall über mir zu schießen und mich somit sofort zu befreien. Meine Sinne waren geschärft. Hatte Lucius überhaupt eine Waffe?

„Wer sind die, Bill?" Lucius' Stimme klang alarmiert. Unser Fahrer wurde von der Beifahrerseite weggerissen, sodass ich ihn nicht mehr sah. Sofort begann ich mich aus dem Spalt zu schieben.

„Bitte beruhige dich.", sagte Bill ruhig. „Weder die, noch ich wollen euch Böses. Ich hatte dir doch schon gesagt, dass ich euch eine Mitfahrgelegenheit besorge." Das beruhigte meinen Bruder keineswegs. Es folgte ein Krachen, woraufhin das Auto erzitterte. Lucius hatte Bill gegen das Auto gedrückt.

„BILL!", ertönten plötzlich erschrockene Rufe.

„Alles gut!", rief Bill zurück. Allerdings hörte es sich nicht so an. Mittlerweile hatte ich mich aus dem Spalt gezwängt. Für einen Moment musste ich meine Augen aufgrund der Helligkeit zusammenkneifen, ehe ich sie vorsichtig wieder öffnete. Ein paar Mal blinzelte ich. Wir befanden uns am Rande einer Straße, die durch einen Wald führte. Nirgendwo waren andere Autos zu sehen. Wir waren allein. Allein mit Bill und den beiden Frauen, die auf uns zu gerannt kamen.

„Keinen Schritt weiter!", rief Lucius drohend, der einen Kugelschreiber aus seiner Hosentasche gezogen hatte. Woher er den hatte, wusste ich nicht. Jedoch hielt er den Stift gerade an Bills Kehle. Sofort blieben die beiden Frauen stehen. In ihren Gesichtern war das Entsetzen zu sehen. Hilflos blickten sie zu unserem Fahrer. Ihnen war anzusehen, dass sie nur zu gerne eingreifen wollten, es aber nicht wagten. Hinter den beiden Frauen konnte ich ein kleines, schäbiges Auto sehen. Es sah eher so aus, als habe man es vor dem Schrottplatz gerettet.

Waren die Frauen damit hergekommen? Ein Wunder, dass es es überhaupt bis hier her geschafft hatte. Im Gegensatz zu diesem Auto wirkte sogar das von Bill neu.

„Bitte lass den Stift sinken.", sagte eine der Frauen. Vorsichtig machte sie einen Schritt in unsere Richtung. Langsam hob sie ihre Hände. „Ich bin unbewaffnet." Sie war etwa im selben Alter wie Enya und Bill. Etwa Mitte zwanzig. Ihr Haar war blond und ihre Augen blau. Außerdem trug sie ein sommerliches grünes Kleid. Sie wirkte nicht gefährlich. Doch man konnte sich irren.

Lucius beeindruckte das nicht. Genau wie ich es erwartet hatte, behielt er den Stift, wo er war. Wir beide wussten, dass man harmlos aussehen konnte, ohne dass man es auch war. Und wir beide wussten noch immer nicht, ob Bill zu trauen war. Zumal wir beide diese Frauen nicht kannten. Also entschied ich, erst einmal noch nicht einzugreifen. Außerdem fiel mir auf, dass er die Perücke und die Brille nicht mehr trug, die er während der Fahrt wohl getragen hatte. Außerdem hatte er auch kein Hemd mehr an, was Bill ihm für die Fahrt empfohlen hatte.

Erst jetzt schienen die Anwesenden mich zu bemerken. Augenblicklich lagen die Augen der beiden Frauen auf mir. Die Blonde wurde blass. Die Andere schien mich noch nirgendwo einordnen zu können. Kritisch musterte mich ihr dunkler Blick. Die roten Haare hatte sie locker zurückgebunden. Im Gegensatz zu der Anderen trug sie ein gewollt zerrissenes T-Shirt, über dem sie eine schwarze Lederjacke trug. Irgendetwas an ihr stimmte nicht. Doch was das war, vermochte ich jetzt noch nicht zu sagen.

Freya Winter - MutantWhere stories live. Discover now