Kapitel 59 - Lucius

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Kapitel 59 - Lucius

Tränen schossen mir in die Augen. Ich spürte, wie ich zitterte. Herzstillstand. Sie hatte das Serum nicht überlebt. Es war, als hätte ich sie ein zweites mal verloren. Wieso hatte ich überhaupt Hoffnungen gehabt? Ich hatte doch von Anfang an gedacht, dass 93 nur den Körper meiner Schwester übernommen hatte. Und wie es schien, hatte ich recht gehabt.

„Hey, Lucius! Sieh mal!", flüsterte James und deutete aufgeregt auf die nächste Zeile.

Status: lebend

Wie bitte? Lebend? Freya lebte nicht mehr! Sie war gestorben! Am 17. Januar war ihr Herz stehen geblieben! Wie konnte sie da noch am Leben sein?

Plötzlich auferstanden: 19. Januar 2048

Grund: unbekannt

Mutation erfolgreich.

Auferstanden? Wie denn auferstanden? Ich verstand nichts mehr. Ich war verwirrt. Meinte Ambrosia mit „auferstanden" vielleicht, dass ihr Körper weiter benutzt werden konnte? Nein. Sonst würde bei „Grund" nicht „unbekannt" stehen. Ich hatte so viele Frage. Ich wusste nicht was ich denken sollte. „Blättere weiter!", forderte James mich aufgeregt auf. „Los! Mach schon!" Er war genauso begierig darauf das zu lesen wie ich. Ich blätterte um. Oben war ein Datum angegeben.

19. Januar 2048

Name: Freya Winter

Geburtstag: 13.12.2040

Haarfarbe: silbern-weiß

Augenfarbe: blau

Geschwister: Lucius Winter

Mutanten Nummer: 93

Röhrenerkennung: FW93

Status: defekt

Defekt? Wieso denn defekt? Sie war doch allen Anschein nach ein Mutant geworden! Und übler Weise passte diese Beschreibung auf eine Mutation, die ich kannte. Wenn 93 wirklich meine Schwester war, hatte ich sie ziemlich übel behandelt. Doch was sollte ich tun? Ich war überfordert.

Weitere Notizen: Freya Winter ist gefährlich. Sie lässt sich von uns nicht kontrollieren. Es ist wirklich ärgerlich. Aus ihr ist ein prachtvoller Mutant geworden. Stark und machtvoll. Es wäre zu schade, sie zu vernichten. Werden es mit dem Keller versuchen. Vielleicht können wir sie dort brechen. - Dorothea Dolores Magpie

Ein kleines Lächeln stahl sich auf meine Lippen, noch ehe ich es verhindern konnte. Freya war schon immer stark und unnachgiebig gewesen. An ihr hatte sich Ambrosia wohl die Zähne ausgebissen. Irgendwie machte mich das stolz. Ich blätterte dieses mal ohne James' Bitte um.

Aufenthalt: Kellerzelle, 19.01.2048 – 02.01.2053

Veränderungen: ungebrochen

Fähigkeiten: Schnelligkeir, Ausdauer, Gift, Sprungkraft, Eis

Es passte genau auf 93 Beschreibung. Aber ich wusste noch immer nicht mit vollkommener Sicherheit, ob 93 meine Schwester war und noch am Leben war. Mikéle zog eine andere Akte aus der Schublade und las sie sich durch. „Hier steht nichts von wieder auferstanden oder gestorben.", informierte er uns. Er zog weitere Akten heraus und las sie durch. „Hier auch nicht. Anscheinend ist das nur ein einziges mal passiert und zwar bei Freya.", sagte er und warf mir einen viel sagenden Blick zu. Für Mikéle war der Fall abgeschlossen. 93 war Freya, sie lebte und fertig. Anders als Mikéle war ich mir da noch nicht so sicher. Und ich wusste auch nicht mehr, was ich besser fände. Dass Freya tot und ihr Körper besetzt war oder dass sie noch am Leben und ein Mutant war.

Der Rest der Akte meiner Schwester bestand aus Verhaltensnotizen während sie hier ankam, ihre Spritze bekam und wie sie im Keller war. Die Seite, die Ambrosia uns damals gegeben hatte, fehlte hier vollkommen. Anscheinend hatte man diese Seite erst später geschrieben und zwar für die Jäger. „Gut, dann kommen wir jetzt zu den Überwachungskameras!", sagte Mikéle und riss mir Freyas Akte aus der Hand, wobei ein Foto heraus segelte. Wir alle starrten es an. Ich leuchtete mit meiner Taschenlampe auf das Bild. Es zeigte einen Raum mit einer senkrecht stehenden Röhre. Ich erkannte ihn als den Kellerraum. Doch anders als heute, befand sich jemand in der Röhre. Es war ein Mädchen, das der achtjährigen Freya noch ziemlich ähnlich sah, bis auf ihre Haare, ihre Augen und die viel zu helle Haut. Ich schätzte das Mädchen auf etwa zehn oder elf Jahre. Der Raum war auf dem Foto noch nicht zerstört. Die Geräte leuchteten und die Röhre war noch heil. Meine mutierte Schwester stand in der Röhre und wirkte gelangweilt. Langsam löste ich mich aus meiner Starre und hob das Foto auf. Ich drehte es um und entdeckte ein paar Notizen auf der Rückseite.

Freya Winter, 02. Dezember 2051, der Keller

Stumm schob ich das Foto zurück in die Akte und legte sie zurück zu den anderen. „Gehen wir zu den Videos.", sagte ich mit belegter Stimme. Schweigend liefen wir durch den Gang und ließen Freyas Akte hinter uns. Jo und Mikéle führten uns bis ans Ende des Raumes, wo praktischer Weise auch ein Fernseher stand. Zu unserem Glück hatte die Technik trotz der Kälte und des Eises keinen Schaden genommen. Mikéle suchte im Regal nach der richtigen Aufnahme. Er wurde relativ schnell fündig und zog eine Aufnahme heraus, die er mir reichte. Skeptisch sah ich ihn an. „Ist es überhaupt die Richtige?", fragte ich.

„Natürlich. Wieso fragst du? Oder hast du etwa Angst sie zu sehen?", fragte Mikéle. „Du willst doch alles wissen. Also fangen wir an!" Er schaltete den Fernseher ein und wartete darauf, dass ich die DVD in den DVD-Player legte. Mir blieb nichts anderes übrig als es zu tun. Alles andere hätte nur Fragen aufgeworfen und darauf hatte ich überhaupt keine Lust. Schweigend sah ich zu, wie die DVD im DVD-Player verschwand. Kurz darauf flackerte auch schon der Bildschirm auf. Unten in der Ecke wurde das Datum eingeblendet. 15.01.2048. Der Tag, an dem Freya verschwand. Leider waren die Aufnahmen ohne Ton. Doch was ich sah reichte mir vollkommen. Ich konnte sehen, wie meine bewusstlose Schwester von Miss Magpie und einem Mann in eine dieser Röhren gelegt wurde, die sich kurz darauf auch schloss. Miss Magpie und der Mann redeten kurz, ehe der Mann verschwand und Miss Magpie ein Schild mit der Aufschrift „FW93" an die Röhre klemmte. Bei der Aufnahme war die Halle noch nicht zerstört, die Monitore blitzten, zeigten irgendetwas an, was ich nicht erkennen konnte und die Maschinen arbeiteten. Außerdem befanden sich in allen Röhren Kinder. Lebendige Kinder. Manche waren noch menschlich, während andere bereits mutiert waren. Freya wachte nicht auf. Ich starrte die bewusstlose achtjährige Freya an und schwor mir in genau diesem Moment, dass ich Miss Magpie finden würde. Ich würde sie finden und töten. Für das, was sie meiner Schwester angetan hatte.

Freya Winter - MutantOnde as histórias ganham vida. Descobre agora