Kapitel 86

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Als sie die Zahl erwähnte, regte sich etwas in meinem Gedächtnis. Siebenundvierzig. Wo hatte ich das schon einmal gehört? Ihre Zahl kam mir bekannt vor. Aber woher? Siebenundvierzig ... Demnach müsste sie kurz nach Liam zu Ambrosia gekommen sein. Doch ansonsten sagte mir das alles nichts. Oder ..? Der Zeitungsartikel! Auf einmal fiel es mir wieder ein: Als ich noch bei Clausen gefangen gewesen war, hatte ich Varya einmal dazu gebracht, mir ihre Zeitung zu geben. In dem Artikel war es um ein paar Mutanten gegangen, die in aller Öffentlichkeit zu den Menschen gesprochen und Gleichberechtigung verlangt hatten. Von der Zeitung war das allerdings wie eine ketzerische Rede dargestellt worden. Wenn ich mich richtig erinnerte, war Siebenundvierzig eine von den Mutanten gewesen, die dort gewesen waren.

„Du warst mit ein paar anderen in der Zeitung.", sagte ich und sie nickte.

„Mehr als einmal.", fügte sie stolz hinzu. Erneut machte sie eine ausladende Geste. „Wir sind eine Gruppe von Mutanten, die es leid sind, wie Abschaum behandelt zu werden. Wir erinnern uns an unser Leben davor und wollen das zurück, was wir noch zurückbekommen können. Unsere Rechte. Unsere Freiheit. Unsere Würde. Gleichheit.Dafür kämpfen wir." Während sie dies sagte, hatten ihre schwarzen Knopfaugen einen traurigen Ausdruck angenommen. Der gesamte Schmerz der Vergangenheit schien in ihnen zu liegen. „Aber fürs erste genug davon. Wer seid ihr?" Interessiert beugte sich Siebenundvierzig vor und die Traurigkeit verschwand.

„Hast du keinen richtigen Namen?", wollte ich wissen und überging ihren letzten Satz. Siebenundvierzig seufzte. „Natürlich habe ich einen richtigen Namen. Doch der gehört meiner Vergangenheit an. Mit ihm kann ich mich nicht mehr identifizieren.", sagte sie resigniert.„Mittlerweile bin ich eine komplett andere Person. In mehr als einer Hinsicht. Und ich würde euch bitten, mich mit Siebenundvierzig anzusprechen."

Betroffen nickte ich. Das, was sie da sagte, stimmte mich unglaublich traurig. Und zornig. Das war alles die Schuld der Wissenschaftler von Ambrosia. Sie hatten uns unserer Zukunft und unserer Vergangenheit beraubt. Ich würde sie dafür bezahlen lassen, wenn ich es nicht bereits schon getan hätte. Aber nicht nur Ambrosia war Schuld an dem Ganzen. Irgendwoher mussten sie ja das ganze Geld und die Einrichtungen dafür bekommen haben. Alle Beteiligten würden irgendwann ihre Strafe bekommen. Denn sie trugen die Schuld daran, uns unser Leben geraubt zu haben.

„So. Und wer seid ihr?", wiederholte Siebenundvierzig und sah jeden von uns der Reihe nach an. Überraschenderweise war Varya die erste von uns, die antwortete. Ihre raue und kaputte Stimme hörte sich unangenehm in meinen Ohren an.

„Ich bin Varya Melnikova.", stellte sie sich vor. „Zwar bin ich nicht bei Ambrosia gewesen, aber dafür war ich das Experiment von Doktor Clausen." Ihr war anzusehen, dass es ihr unangenehm war, zu sprechen.

Siebenundvierzig sah überrascht aus. „Melnikova?", harkte sie interessiert nach. „Bist du zufällig mit einem Mischa Melnikova verwandt?" Kaum verließ der Name Siebenundvierzigs Lippen, sah Varya so unglaublich traurig und verloren aus. Unsicher knetete sie ihre Hände. „Das ist mein Vater.", sagte sie.

Siebenundvierzig sAugen weiteten sich vor Erstaunen. Das hatte sie sicherlich nicht erwartet. „Dein Vater?", wiederholte sie um sicherzugehen. Varya nickte. „Das ist interessant.", meinte Siebenundvierzig. „Willst du vielleicht bei uns mitmachen?"

Nun war es an Varya, erstaunt zu schauen. „Was?", krächzte sie ungläubig. Siebenundvierzig stellte ihre Frage erneut.

„I-Ich bin mir nicht sicher.", sagte Varya. „Ich meine, ich habe all das, was ihr erlebt habt, nicht erlebt. Außerdem bin ich noch nicht lange so. Und ich war Clausens Assistentin." Nervös rutschte sie auf ihrem Platz herum. Da ich neben ihr saß, legte ich ihr meine kalte Hand auf die Schulter. „Du tust so, als sei das alles harmloser gewesen als es wirklich war. Du hast genauso einen Grund wie Siebenundvierzig, um für Gleichheit zu kämpfen." Meine Stimme klang schärfer als ich es eigentlich beabsichtigt hatte. Doch Varya schien mir meinen Ton nicht übelzunehmen. Sie nickte bloß und wandte sich wieder an Siebenundvierzig.

„Lass mich bitte ein wenig darüber nachdenken. Ich muss mich erst mit mir selbst zurechtfinden, da es noch nicht lange her ist, dass ich meinen Willen zurückhabe." Obwohl Siebenundvierzig mit dieser Erklärung eigentlich nicht viel anfangen konnte, nickte sie.

„Du kannst dir so viel Zeit lassen, wie du willst.", sagte sie und sah nun zu Lucius. „Du bist ein Mensch. Jetzt bin ich aber gespannt, wie es dazu kam, dass du dich entschieden hast, an der Seite von Mutanten zu kämpfen!"

Lucius schien das Ganze sichtlich unangenehm zu sein. Er kratzte sich einmal kurz am Kinn, ehe er antwortete. Er entschied sich für die Kurzform, deutete auf mich und sagte: „Sie ist meine Schwester."

Siebenundvierzig war mit seiner Antwort wohl nicht ganz zufrieden, denn sie zog skeptisch ihre Augenbrauen in die Höhe. „Das ist alles?"

„Ich bin Lucius.", fügte Lucius noch hinzu. Aber ansonsten beließ er es bei seiner kargen Erklärung. Allerdings konnte ich gut nachvollziehen, weshalb Lucius nicht erwähnte, dass er ein Jäger war und wir uns deshalb wieder getroffen hatten. Immerhin waren die Jäger für Siebenundvierzig wahrscheinlich fast genauso schlimm wie Ambrosia.

Doch Siebenundvierzig harkte nicht weiter nach. Sie akzeptierte, dass Lucius nicht mehr erzählen wollte. Letztendlich sah sie zu mir. Ihre Frage musste sie mir gar nicht erst stellen.

„Meine Nummer ist dreiundneunzig.", stellte ich mich vor. „Und mein Name ist Freya Winter."

Für einen Moment weiteten sich Siebenundvierzigs Augen. Fassungslos starrte sie mich an. „Das warst du?", keuchte sie atemlos. „Du hast uns damals befreit? Du bist dreiundneunzig?" Befreiung würde ich das nicht wirklich nennen. Womöglich war es für uns sogar schlimmer geworden, als die Öffentlichkeit schließlich von uns erfuhr.

„Ich bin dreiundneunzig.", bestätigte ich, wobei mir der Blick auffiel, den Lucius mir zuwarf als ich das sagte. Siebenundvierzig war sprachlos. Sie konnte mich einfach nur anstarren. Doch schon sehr bald hatte sie sich wieder gefasst.

„Hättest du etwas dagegen, deine Kapuze abzunehmen, Freya?", bat Siebenundvierzig mich. „Ich würde nur sehr gerne sichergehen, dass das keine Lüge ist." Bitter presste ich meine Lippen aufeinander. Sie musste mich damals bei Ambrosia gesehen haben. Die Frage war nur, wie sie mich gesehen hatte. Hatte ich damals Schuppen gehabt oder Haut? Sollte sie mich mit Schuppen nicht kennen, könnte es sein, dass sie mir nicht glaubte. Und momentan wusste ich nicht, ob ich die Schuppen je wieder loswerden würde.

Widerwillig hob ich meine Hände, sodass die langen Ärmel des Mantels zurück rutschten und weiße, mit Schuppen überzogene Hände zum Vorschein kamen. Siebenundvierzig quittierte das mit einem Stirnrunzeln. Meine Finger umfassten jeweils einen Rand der Kapuze. Und dann nahm ich die Kapuze ab. Siebenundvierzig blickte in abnormale, leuchtende Augen. Meine Augäpfel glühten in einem intensiven orange, in dem sich blutrote Sprenkel befanden. Meine Pupillen waren die einer Schlange. Anstelle von normaler Haut, bedeckten weiße Schuppen mein Gesicht. Die Haut einer Schlange.

Eine Zeit lang sagte Siebenundvierzig nichts. Ihre Augen lagen einfach nur auf meinem Gesicht. In ihnen war ein Ausdruck, den ich nicht deuten konnte. Neben Siebenundvierzigs Augen spürte ich auch noch die Blicke von Varya und Lucius auf mir. In dem Blick von Lucius lag ein offensichtlicher Ausdruck von Reue und Scham. Varyas dagegen zeigte Mitleid.

Schließlich fand Siebenundvierzig ihre Sprache wieder. „Hattest du damals nicht einfach nur eine blasse Haut?", fragte sie irritiert.

„Das auch, ja.", sagte ich verbittert. „Ab und zu hatte ich auch mal die Haut einer Schlange, aber genau wie Varya hat Doktor Clausen mich als ein Experiment missbraucht und jetzt habe ich meine menschlicheHaut verloren." Und auch meine relativ menschlichen Augen. Doch das sprach ich nicht aus. Es war offensichtlich.

„Das tut mir leid.", meinte Siebenundvierzig betroffen und schwieg. Eine unangenehme Stille breitete sich in dem Wohnzimmer aus und schien uns alle zu erdrücken. Meine Gedanken schweiften zu Liam, Kieran und den anderen. Wo sie jetzt wohl waren? Hoffentlich irgendwo in Sicherheit. Dennoch wuchs in mir die Sorge, dass ich sie nicht mehr finden würde. Bei unserem Plan in das Gefängnis einzubrechen, hatten wir leider keinen Treffpunkt vereinbart, für den Fall, dass wir von den anderen getrennt werden sollten.

In diesem Moment klapperte das Schloss der Haustür. „Scheint so als wären ein paar Leute schon zurück.", bemerkte Siebenundvierzigund stand auf. Aus dem Flur waren dumpfe Schritte zu vernehmen und leise Stimmen. Lucius, der neben mir saß, spannte sich an. Die Türklinke an der Tür, die das Wohnzimmer vom Flur trennte, wurde nach unten gedrückt. Es erschien ein großgewachsener junger Mann im Türrahmen, der sofort innehielt, als er uns bemerkte.


Freya Winter - MutantWo Geschichten leben. Entdecke jetzt