Kapitel 87.3

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Entschlossen wandte ich mich von meinem Spiegelbild ab. Ich konnte noch so viel über meine jetzige Situation nachdenken. Bringen würde es mir nichts. Es war geschehen und ließ sich jetzt nicht mehr ändern. Mir blieb nur noch, mich damit abzufinden und weiterzumachen. Alles andere wäre sinnlos.

Das hier war mein Leben. Es lag an mir, zu entscheiden, wie es damit weiterging. In Selbstmitleid zu versinken war keine Option. Nicht für mich. Clausens Experiment an mir hielt mich nicht auf. Es war vielleicht ein neues Hindernis, das ich bewältigen musste. Doch das änderte nichts an der Tatsache, dass ich noch immer mein eigener Herr war. Im Gegensatz zu anderen hatte ich nämlich wirklich Glück gehabt.

Entschieden streifte ich meine Klamotten ab und stellte mich unter die Dusche. Die Temperatur des Wasser stellte ich so kalt ein, wie es nur möglich war. Beinahe sofort begann das Wasser aus dem Duschkopf zu tröpfeln. Erst langsam, dann bündelten sich die Tropfen zu einem weichen Strahl. Die Kälte war angenehm. Auch wenn sich das Wasser auf meiner Haut irgendwie anders anfühlte als sonst. Aber das lag daran, dass ich nun keine menschliche Haut mehr hatte. Es war nicht großartig anders, dennoch auf irgendeine Weise gewöhnungsbedürftig. Ebenso der Gedanke, dass ich nun für immer Schuppen haben sollte. Ich vermisste meine menschliche Haut. Als ich sie noch hatte, hatte ich nie darüber nachgedacht, dass ich sie eines Tages so schmerzlich vermissen würde. Stattdessen hatte ich mir immer selbst leid getan: immerhin hatte Ambrosia mir mein Menschsein genommen.

Aber jetzt wusste ich es besser: im Gegensatz zu vielen anderen Mutanten hatte ich noch Glück gehabt. Ich durfte bei einem wirklich wunderbaren Ehepaar leben, das mich trotz allem noch wie ein Mensch behandelt hatte. Und anders als bei anderen war meine Veränderung nicht so gravierend gewesen. In den Laboren hatte es viele Kinder gegeben, bei denen man wirklich Mühe gehabt hatte, sie noch irgendwie als Menschen identifizieren zu können.

Damals hatte ich mich selbst bemitleidet. Das war vielleicht noch gar nicht mal so lange her. Für mich allerdings kam es mir wie eine Ewigkeit vor. Als wäre das ein anderes Leben gewesen. Nun konnte ich nur über mich selbst den Kopf schütteln. Wie kindisch ich gewesen war. Wie naiv.

In Gedanken versunken blickte ich auf meine Hände, die von weißenSchuppen überzogen waren. Kaltes Wasser perlte von ihnen ab. Mit dem Verlust meiner menschlichen Haut hatte sich in meinem Inneren nichts verändert. Ich fühlte noch genauso wie vor wenigen Tagen. Es änderte nichts daran, dass ich – auch, wenn ich es nur ungern zugab – noch immer wie ein Mensch fühlte. War ich wirklich jemals etwas Anderes gewesen?

Es war so lächerlich ironisch. Einerseits hatte ich die ganzen Jahre über meiner verlorenen Menschlichkeit hinterher getrauert. Andererseits hatten mich die meisten Menschen so sehr angewidert, dass ich erleichtert war, kein Mensch mehr zu sein. Und dennoch fühlte ich mich nach wie vor menschlich ... Konnte ich mich irren? Was war ich überhaupt? Menschen und Mutanten waren nicht das Gleiche. Sie unterschieden sich in so unendlich vielen Dingen. Wieso also kam ich mir noch immer so menschlich vor?

Frustriert seufzte ich auf. Mein nasses Haar klebte an mir wie eine zweite Haut. Irgendwie konnte ich mich auch nicht entscheiden. Trauerte meiner Menschlichkeit nach und doch verabscheute ich sie. Das passte doch nicht zusammen.

„Was ist überhaupt Menschlichkeit?", murmelte ich gedankenverloren und strich mir eine tropfende weiße Strähne aus meinem Gesicht. Hatte jemand diesen Begriff überhaupt schon einmal wirklich definiert? War es unbedingt notwendig, ein Mensch zu sein oder bezog sich der Begriff auf das eigene Gefühl und die eigene Wahrnehmung seiner selbst?

Konnten Mutanten trotzdem noch immer Menschen sein? Dieser Gedanke schien mich einfach nicht mehr loslassen zu wollen. Egal wie entschlossen ich versuchte, ihn loszuwerden. Mutanten waren keine Menschen. Das war so offensichtlich wie der Fakt, dass Katzen keine Hunde sein konnten! Wieso also wollte der Gedanke nicht verschwinden?

Genervt stoppte ich den Wasserfluss und wickelte mich in ein Handtuch ein. Wieso musste ich gerade jetzt an so etwas denken? Zur Zeit hatte ich ganz andere Probleme, die weitaus wichtiger waren, als solch lästige Fragen.

Kurz inspizierte ich die Kleidung, die Siebenundvierzig mir gegeben hatte. Ein kapitulierendes Lächeln erschien auf meinen Lippen. Vor mir lag eine hellblaue Jeans und ein dunkelblaues Langarmshirt. Das würde mich nur noch bleicher machen. Aber egal. Ich würde mich nicht beschweren. Weshalb auch? Es war, wie es war.

Zügig zog ich mich an und entdeckte einen Föhn, der in einer Wandhalterung neben dem Waschbecken hing. Prüfend nahm ich ihn in meine Hand. Hoffentlich konnte der auch kalte anstatt warme Luft ausstoßen. Zuhause hatten wir so einen gehabt. Audra hatte sich extra nach einem solche Föhn umgesehen, während Aldric nur gemeint hatte, dass er den Sinn eines Föhns sowieso nicht erkenne.

Bei dieser Erinnerung schlich sich ein trauriges Lächeln auf meine Lippen. Aldric ... Wie sehr ich ihn vermisste. Noch immer erschien mir sein Tod so unwirklich. Als wäre das gar nicht wirklich geschehen. Als hätte ich das nur geträumt. Leider war dem nicht so. In diesem Moment war ich froh, dass ich nicht dabei gewesen war, als man Audra von dem Tod ihres Mannes informierte. Bestimmt hatte Liam die Aufgabe übernommen, Audra nach ihrer Befreiung aus dem Gefängnis davon zu erzählen. Schließlich sah er es bestimmt als seine Pflicht an. Ich wollte wirklich nicht in Liams Haut stecken, zumal er vermutlich große Schuldgefühle hatte. Nicht nur wegen Aldrics Tod, von dem er glaubte, ihn verhindern zu können. Auch wegen Lucius' und meiner Entführung, da er nicht genug aufgepasst hatte.

Zu gerne wollte ich Liam sagen, dass das alles nicht seine Schuld war. Aber ich konnte nicht. Ich wusste nicht wo Liam sich befand und ob er und die anderen es überhaupt geschafft hatten, unverletzt zu entkommen.

Aber auch daran wollte ich im Moment nicht denken. Wenn's und Vielleicht's halfen niemandem weiter. Ich schaltete den Föhn ein und stellte zufrieden fest, dass man dessen Temperatur tatsächlich einstellen konnte. Kalte Luft strömte mir entgegen.

Kurz darauf waren meine Haare auch nur noch leicht feucht. Dabei beließ ich es und hing das Gerät zurück. Anschließend machte ich mich wieder auf den Weg nach unten zu Lucius und Varya. Im Flur des ersten Stocks traf ich auf niemanden. Entweder befanden sich alle in den anderen Zimmern, im Keller oder im Wohnzimmer.

Auch unten war es zunächst still. Bevor ich das Wohnzimmer jedoch betreten konnte, vernahm ich die Stimme von Lucius.

„Und du bist dir dabei auch wirklich sicher?" Seine Stimme klang skeptisch. Zudem schwang ein Hauch Verzweiflung mit. Da niemand etwas sagte ging ich davon aus, dass ihm mit einem Nicken geantwortet wurde. Worum ging es in diesem Gespräch?

Lucius stieß ein müdes Seufzen aus. „Weißt du, bei mir ist es ein wenig anders abgelaufen als bei dir. So einfach ist das demnach nicht."

„Oh, du bist ja fertig!", ertönte auf einmal Varyas kratzige Stimme hinter mir. Überrascht drehte ich mich zu ihr um. Ich hatte sie überhaupt nicht bemerkt. Varya saß mit einer Zeitung in den Hände nauf einem kleinen Hocker im Hausflur. Misstrauisch runzelte ich meine Stirn. Wenn Varya hier bei mir war, mit wem sprach dann mein Bruder?





Freya Winter - MutantWo Geschichten leben. Entdecke jetzt