Kapitel 99

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Doch Zweihunderteins beachtete ihn gar nicht. Und obwohl all meine Aufmerksamkeit auf ihm lag, kam ich nicht umhin, mich zu fragen, wie vertraut Zweihunderteins Kieran, den er »Flavio« nannte, war. Irgendetwas sagte mir, dass sie beide sich schon gekannt hatten, bevor dem ersten von ihnen die Gefühle abhanden gekommen waren. Denn, soweit ich das bisher vermutete, hatten die gefühllosen Mutanten die Namen, die sie zuvor getragen hatten, abgelegt und waren vollständig zu der Nummer geworden, die die Wissenschaftler einst für sie vorgesehen hatten.

Mit einem kräftigen Flügelschlag erhob Zweihunderteins sich wieder in die Höhe, genau auf den eisigen Sarkophag zu. Zweihunderteins' Anwesenheit schien Kieran abgelenkt zu haben, denn er schenkte Fünfundachtzig, die sich gerade wieder auf die Füße kämpfte, kaum Beachtung. Eindringlich lagen Kierans dunkle Augen auf der Fledermaus. Und zum aller ersten Mal sah ich ehrliche und unverfälschte Gefühle in seinem Gesicht. Sie waren widersprüchlich, zerrissen. Aus einer Zeit, bevor Kieran mir begegnet war. Womöglich sogar noch aus einer Zeit, bevor er seine Gefühle in der Armee bereitwillig abgeschaltet hatte. Schließlich begriff ich, dass die Fledermaus und er wohl einmal Freunde gewesen sein mussten.

Aber Kierans Freund war verloren. War zum Elitejäger geworden und wer wusste schon, wie lange er in seiner Emotionslosigkeit lebte. Ob man ihm jemals seine Gefühle zurückgeben konnte, war ungewiss. Er war nicht zu retten. Und das musste Kieran auch wissen. Selbst wenn es möglich wäre: Würde er überhaupt mit all dem, was er während seiner Zeit als Elitejäger getan hatte, leben können? Die Fledermaus musste getötet werden. Aber ich war mir sicher, dass Kieran tun würde, was getan werden musste. Schließlich war ihm, genau wie mir, bewusst, dass wir nirgendwo sicher wären. Ständig auf der Hut sein müssten. Immerzu auf der Flucht.

Dämonengleich bewegte Zweihunderteins sich durch die Luft und zeitgleich rannte ich los, um ihn davon abzuhalten, den Bären zu befreien. Zweifelsohne war die Fledermaus stark. Womöglich sogar der stärkste der Elitesoldaten. Er musste nicht noch einen weiteren feindlichen Mutanten zurück aufs Spielfeld bringen. Wir würden wohl genug Probleme allein mit ihm haben.

Zeitgleich, während Zweihunderteins und ich uns einen Wettlauf lieferte, ließ ich rasiermesserscharfe Eissäulen aus dem Boden schießen. Doch jede einzelne von ihnen verfehlte den fliegenden Mutanten. So wie Kieran ein Blitz am Erdboden war, war Zweihunderteins einer in der Luft. Geschickt und ohne Probleme wich er meinen Säulen aus. Dennoch verlor er dadurch ein wenig Zeit, weshalb wir gleichzeitig beim weißen Grab ankamen.

Er setzte zum Sturzflug an, die schwarzen Schwingen an sich gepresst. Ich witterte meine Chance. Selbst wenn er ausweichen würde, würde ich gewinnen. Denn er würde den Bären nicht befreien können.

Wie ein Pfeil schoss er hinab, während ich meine Hand erhob. Die Kälte manifestierte sich, weiß und funkelnd, umgeben von kaltem Nebel. Das eisige Geschoss zischte hinauf, genau auf die Fledermaus zu. Doch die wich in aller letzter Sekunde zur Seite aus, schraubte sich erneut in die Höhe und stieß sich wieder herunter. Dieses Mal war ich zu langsam. Bevor sich mein Eis bilden wollte, schlug der Mutant wie eine Kanonenkugel auf dem kalten Sarkophag ein, der klirrend in seine Einzelteile zersplitterte.

Augenblicklich sprang der Bär, trotz seiner kalten Glieder und der Atemnot, hervor. Wankte, zog sich zurück. Aber ich ließ ihm keine Zeit, sich zu erholen. Mein Eis war schneller als ich. Tödlich und ungesehen bohrte sich eine kleine, dünne Nadel aus manifestierter Kälte seitlich in den Hals des Bären. Der riss gerade noch die Augen auf, fasste sich mit der Hand an die getroffene Stelle, doch das Eis war bereits geschmolzen. Ein schmaler Fluss aus Blut ergoss sich aus der Wunde und der Bär ging gurgelnd zu Boden.

Ohne jegliche Regung sah der Fledermausmutant ihm dabei zu. Jede andere Person wäre nun wütend, fassungslos oder schockiert gewesen. Hätte womöglich die Kontrolle verloren und sich Hals über Kopf auf mich gestürzt. Nicht aber Zweihunderteins.

Der katapultierte sich wieder in die Höhe, außerhalb meiner Reichweite. Und dort blieb er fürs erste. Ein tödlicher Schatten hoch oben, über uns. Bereit, jederzeit herab zustürzen, um uns zu töten.

Jetzt waren es nur noch zwei von ihnen. Hoffentlich. Ich wollte mir nicht vorstellen, wie es wäre, wenn sich tatsächlich alle Mitglieder der Elitejäger hier befinden würden. Zumal es aufgrund der Bäume deutlich schwieriger wäre, sie alle im Eis einzusperren. Sie boten zu viele Flucht- und Versteckmöglichkeiten.

Flink wie eine Akrobatin kletterte Fünfundachtzig an einem Baumstamm hinauf, hüpfte leichtfüßig von einem Ast zum nächsten.

»Haben wir sie vertrieben?«, fragte Liam stirnrunzelnd. Kampfbereit hatte er sich vor Audra aufgebaut, bereit, jeden zu verbrennen, der ihr zu nahe kam. Es überraschte mich, dass er sich bisher so zurückgehalten hatte. Noch bei unserer Flucht aus Wandsworth hatte er alles in ein tosendes Inferno verwandelt. Jetzt hatte er noch nicht einmal flammende Kugeln abgeschossen. Er konzentrierte sich allein auf Audra und die Umgebung um sie herum. Er würde nicht zulassen, dass ihr das Gleiche geschah wie Aldric.

»Nein.«, sagte Kieran knapp, den Blick stets nach oben gerichtet.

»Bist du dir sicher?«, harkte Liam nach. »Sie sind beide geflohen.«

»Das war keine Flucht.«, beharrte Kieran. »Sie verändern ihre Position, ihre Strategie. Sie wollen uns wieder aus dem Nichts erwischen.«

»Ich könnte die Bäume in Brand stecken.«, bot Liam an. Natürlich gefiel es ihm nicht, dass er nicht helfen konnte und dass wir alles allein machen mussten. Er wollte kein tatenloses Anhängsel sein. Aber irgendwer musste sich schließlich um Audra kümmern. Würde Liam sich mit ins Getümmel werfen, wäre sie ein leichtes Ziel.

»Damit würdest du bloß Fünfundachtzig treffen, nicht aber Flavio.«, meinte Kieran trocken. »Außerdem würdest du damit jedem außer ihm und dir den Fluchtweg abschneiden.« Das sah Liam ein.

Plötzlich stürzte Zweihunderteins wieder pfeilgerade herab. Er würde genau bei Kieran einschlagen. Dieser sah den Mutanten zwar rechtzeitig, doch anders als sonst wich er nicht aus. Unbeirrt lagen seine dunklen Augen auf der Fledermaus, erwartete sie grimmig.

Mit einem dumpfen Geräusch prallten der Flugmutant und Kieran aufeinander. Letzterer zögerte keine Sekunde und packte den geflügelten Mutanten. Dieser wehrte sich heftig, schlug mit seinen verlängerten Fingern nach dem Chamäleon. Als dies nichts brachte, versuchte er, seine Kralle in Kierans Haut zu versenken, doch die durchbrach noch nicht einmal seine erste Hautschicht. Stattdessen rutschte sie an der Oberfläche seiner Haut ab.

Kieran könnte ewig so weiter machen. Nichts konnte ihn verletzen, vielleicht noch nicht einmal töten. Zweihunderteins dagegen schon. Und das wusste er. Er, wie auch die anderen der Elitejäger. Darum hatte Fünfundachtzig ihn als ersten Gegner beseitigen oder zumindest in Schacht halten wollen. Um Kieran brauchte ich mir keine Sorgen zu machen. Dennoch tat ich es.

Zweihunderteins schlang seine unnatürlich dünnen und seltsam geformten Arme, die mit seinen Flügeln verbunden waren, um Kieran. Obwohl seine Arme dünn waren, waren sie stark. Eisern hielten sie Kieran in ihrem Griff, verhinderten, dass er sich befreite. Wenn er ihn schon nicht töten konnte, konnte er ihn aufhalten. 

Doch Kieran würde nicht aufgeben. Der Fledermausmutant mochte keine Gefühle mehr haben, aber Schmerz spürte er sehr wohl. Das verriet mir ein kaum merkliches Zucken. Vermutlich hatte Kieran ihn unter den Flügeln mit seiner Klaue erwischt. Ich wandte meinen Blick ab.

Die beiden waren beschäftigt und würden es vermutlich auch noch einige Zeit sein. Währenddessen würde Fünfundachtzig Zeit haben, sich ein wenig zu erholen. Sie war noch immer irgendwo dort oben. Beobachtete und wartete.

Mittlerweile glaubte ich, dass sie heute tatsächlich nur zu dritt gekommen waren. Ansonsten hätten die anderen schon längst eingegriffen. Da sie das aber nicht hatten, befanden sie sich irgendwo anders. Hoffentlich waren die Jäger in Sicherheit.

Aus den Augenwinkeln bemerkte ich, dass Kieran sich von der Umklammerung der Fledermaus befreit hatte. Diese vollführten einen tödlichen Tanz mit messerscharfen Klauen, Krallen und Flügeln. Schnell wirbelten sie zwischen den Bäumen umher, Kierans Miene ganz ernst.

Ein kaum hörbares Knacken verriet Fünfundachtzig. Sie hatte ihren ersten Fehler gemacht. Also waren die Elitejäger doch nicht unfehlbar. Immerhin waren auch sie aus Fleisch und Blut und keine Maschinen. 

Freya Winter - MutantWhere stories live. Discover now