Kapitel 82.2

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„Hallo Varya.", grüßte ich sie. Sie sah noch nicht einmal auf. Aber das sollte mich eigentlich nicht wundern. Dennoch blieb die Frage, wie ich ihre Aufmerksamkeit gewinnen konnte. Doch wie hatte ich das beim letzten mal geschafft? „Könntest du meine Gefängniszelle öffnen?" Nicht einmal ein Zucken. Kein Zeichen, dass sie mich überhaupt hörte. So weit ich wusste, war Varya nicht taub. „Varya!", rief ich. Nichts. Frustriert raufte ich mir die silbernen Haare. Ich hatte keine Zeit für so etwas! Da konnte ich eher ausprobieren, ob ich aus eigener Kraft frei kam. Immerhin hatte das Serum irgendetwas mit mir angestellt. Da musste es doch auch Vorteile geben. Sogleich breitete  sich die Kälte rasend schnell in meinem Körper aus. Sie erfüllte mich von oben bis unten und ich begrüßte sie wie einen guten Freund. Vor meinen Augen gefror mein Atem. Und noch war nichts absorbiert worden. Plötzlich schoss das Eis explosionsartig aus meinen Fingerspitzen. Allerdings war es verschwunden bevor es auch nur einen Kratzer im Glas verursachen konnte. Und mit dem Eis auch die Kälte. Wütend und frustriert zugleich ließ ich einen tobenden Schneesturm entstehen. Jedoch machte das meine Zelle nur zu einer übergroßen Schneekugel.

Auf einmal sah Varya von ihrer Zeitung auf und betrachtete das Schneetreiben. Als dieses dann verschwand wurde der Blick auf mich frei gemacht. Jetzt hatte ich ihre Aufmerksamkeit. Schweigend musterte sie meine Erscheinung, die alles andere als menschlich war. Ihre Augen analysierten jedes unmenschliche Detail. Die Schuppen, die Augen, die Haare. Auch die Zähne, als ich zu sprechen begann. „Holst du mich hier raus?", fragte ich. Natürlich antwortete sie nicht. Aber sie bewegte sich auch nicht. Meine angestaute Wut machte sich nun bemerkbar. „Du bist ein Mutant! Genau wie ich. Und anstatt Deinesgleichen zu helfen, unterstützt du Doktor Clausen!", rief ich zornig. „Bemerkst du denn gar nicht, dass er dich nur ausnutzt? Er gehört zu einer der schlimmsten Sorte von Menschen! Er behandelt dich wie eine Maschine! Lässt du dir das gefallen? Ja. Aber warum? Warum, verdammt? Hat er irgendetwas getan, womit er deinen Gehorsam verdient hat? Das glaube ich eher nicht. Clausen benutzt dich nur! Ihm ist vollkommen egal, wie es dir geht: So lange du ihm von Nutzen bist, kann er dich gebrauchen. Aber nur so lange." Langsam ließ Varya ihre Zeitung sinken. „Und gehörst dir selbst, Varya! Selbst wenn er etwas für dich getan haben solltest, ist das noch lange keine Berechtigung, dich wie seine Sklavin aufzuführen! Das hier ist dein Leben! Du entscheidest, was du daraus machst! Lass dir das nicht von Menschen wie Julius Clausen nehmen!" Varya blinzelte. Eine minimale Veränderung in ihrer Mimik war zu erkennen. Jetzt durfte ich nicht aufhören. „Auch wenn du glaubst, deinen freien Willen verloren zu haben: Hol ihn dir zurück! Er ist noch vorhanden. Du musst nur danach greifen. Du bist keine Marionette. Weder von Clausen, noch von sonst einem Menschen. Du gehörst nur dir selbst. Clausen hat keine Macht über dich, wenn du sie ihm nicht gewährst." Sie legte ihre Zeitung beiseite. Doch ansonsten war da keine Veränderung. „Wir sind beide Mutanten, Varya. Menschen werden uns immer mit Misstrauen und Angst begegnen. Sie verstehen uns nicht und fürchten uns deswegen. Und Furcht lässt Menschen grausame Entscheidungen treffen. In ihren Augen werden wir immer anders sein. Für manche sind wir nur Fehler oder eine Laborratte. Wirf dein Leben nicht für solch einen Menschen weg." Varya erhob sich von ihrem Stuhl. Eine Regung in ihrem Gesicht war zu sehen. Jedoch konnte ich sie nicht identifizieren. War das überhaupt eine Handlung, die von ihrem eigenen Willen zeugte? „Wir müssen für unsere Freiheit kämpfen. Du und ich.", sagte ich energisch. „Wir Mutanten müssen uns gegenseitig helfen. Und weißt du, warum? Weil das sonst niemand tun wird. Wir sind auf uns allein gestellt. Wir müssen zusammenhalten." Varyas Gleichgültigkeit trieb meine Frustration voran und war zugleich der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. „Oder willst du etwa weiterhin wie ein wertloser Haufen Dreck behandelt werden? Du bist ebenso ein Lebewesen wie die Menschen! Du hast genauso ein Recht auf Freiheit! Aber du lässt dich lieber von einem der verabscheuungswürdigsten Menschen, die es überhaupt gibt, benutzen!", rief ich, wobei meine Temperatur rapide sank. „Wir sollten auf der selben Seite stehen, Varya! Das ist nicht gerecht, wie man uns behandelt! Und du lässt das einfach zu, ohne das in Frage zu stellen? Was ist nur los mit dir?!" Meine geballte Faust schlug gegen die Scheibe. Meine Augen glühten vor Wut. „Du bist nicht besser als all die Menschen, die auf uns herabsehen und uns mit Füßen treten! Du bist ein Mutant! Ob du das willst oder nicht. Mich hat auch keiner nach meiner Meinung gefragt und trotzdem stehe ich jetzt so hier, wie du mich nun einmal siehst. Aber das ist kein Grund aufzugeben und sich so behandeln zu lassen! Clausen benutzt dich! Und das ist nicht okay!"

Freya Winter - MutantWhere stories live. Discover now