Kapitel 83.2

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Entsetzt sah Lucius mich an. „Freya, bitte tu das nicht!", flehte er und setzte an, weiterzureden, doch ich legte meine kalte, mit Schuppen besetzte Hand auf seinen Mund, die ihn sofort zum Schweigen brachte. Mit gemischten Gefühlen starrte er auf meine Hand.

„Sei still. Sonst bekommst du den Knebel gleich wieder zurück.", warnte ich ihn und nahm vorsichtig wieder meine Hand von seinen Lippen. Meinem Bruder gefiel es gar nicht, doch er sagte nichts. Verbittert presste er seine Lippen fest aufeinander. Varya, die sich vorhin noch im Hintergrund aufgehalten hatte, trat nun vor und ging mit langsamen, aber selbstbewussten Schritten auf ihren Peiniger zu. Dem liefen die Tränen der puren Verzweiflung aus den Augen. „Varya...", schluchzte er und seine Stimme brach. „B-Bitte ..." Doch Varya betrachtete ihn nur mit einem Blick der finsteren Genugtuung.Sie weidete sich an Clausens Leid, was ich nur zu gut nachvollziehen konnte. Mir selbst ging es kaum anders. Kurz wandte Varya ihren Blick ab, um nach einem, noch nicht zerstörten, Papierstapel Ausschau zu halten. Relativ schnell fand sie einen kleinen Haufen und nahm ihn in ihre Hände. Ein zufriedenes Lächeln zog ihre Mundwinkel nach oben, während sie sich wieder Clausen zuwandte. Dieser sah so aus, als wollte er gleich zusammenbrechen. „N-Nein. Varya, nein. T-Tu das nicht ...", wimmerte er und begann an seiner Hand zu ziehen, die durch mich an der Wand fixiert war. Sein Gesicht war schmerzverzerrt und veranschaulichte seine Qualen nur zu gut. Sein ganzer Körper zitterte und ihm war anzusehen, dass ihm die Kraft schwand. Das Eis verfärbte sich noch roter. Millimeter um Millimeter bewegte sich seine durchbohrte Hand nach vorne. Um nicht schreien zu müssen, biss der Doktor sich seine Unterlippe blutig. Das letzte Überbleibsel seiner Arbeit war in Gefahr. Und das war ihm wichtiger, als seine eigene Gesundheit. Clausen lebte für seine Forschung. Sie war sein Leben. Er konnte es nicht ertragen, dass all seine jahrelangen Bemühungen und Anstrengungen vor seinen Augen in sich zusammenfielen.

Tatsächlich schaffte Clausen es, seine Hand zu befreien. Ein gequälter Schrei entkam ihm und er hielt zitternd sein Handgelenk fest. Ein großes Loch befand sich in seiner Hand. Keuchend rappelte Clausen sich auf und versuchte Varya seinen Papierstapel zu entreißen. Doch ihr war es ein Leichtes, die Papiere aus seiner Reichweite zu halten. „Gib her ... Gib sie mir ...", hauchte Julius Clausen, dessen Beine unter ihm immer wieder zusammenzuklappen drohten. Varya brauchte Clausen nur kurz anzustupsen, schon taumelte er ein wenig zurück. Plötzlich packte sie den Stapel mit beiden Händen und riss ihn vor den Augen des Doktor entzwei. Dessen Augen weiteten sich voller Entsetzen und abrupt sank er auf seine Knie. „Nein!", hauchte er, während er zusah, wie der letzte Rest seines Lebenswerkes für immer verloren ging. Äußerst zufrieden riss Varya weiter an dem Papier. Als sie fertig war, warf sie die Schnipsel in die Luft. Wie schwarz-weißes Konfetti regneten sie auf Clausen nieder.

Doch dies reichte Varya nicht. Konsequent griff sie nach Clausens blutiger Hand. Verzweifelt wollte Clausen ihr seine Hand entreißen, doch gegen Varya hatte er keine Chance. Ohne zu blinzeln schob sie seine Hand wieder zurück auf den Eiszacken, der sich durch die Wand hinter Clausen gebohrt hatte. Schreiend bäumte der Doktor sich auf, was ihm letzten Endes nichts brachte. Nun drehte sich Varya wieder zu mir um.

„Lass uns gehen.", krächzte sie. Tatsächlich sah sie entspannt aus. So entspannt, als würde sie gerade eine hervorragende Massage hinter sich haben. Knapp nickte ich. Meine Finger umschlossen die Fesseln um Lucius' Handgelenk. Anders als sie es bei mir waren, waren seine weniger robust. Immerhin war er ein Mensch. Ohne große Anstrengungen riss ich seine Fesseln los und widmete mich dann den anderen. Kurz darauf war mein Bruder frei. Doch er sah müde aus. Richtig freuen konnte er sich über seine Befreiung nicht mehr. Vielleicht lag es an meinen Worten. Seine Befreiung bedeutete, dass wir uns nun so schnell wie möglich auf dem Weg hier raus und zurück zu seinen Jägern machen würden. Danach würden sich unsere Wege trennen. Mit diesem Gedanken konnte er sich nicht anfreunden. Eigentlich sollte er meine Entscheidung verstehen. Auch, wenn sie ihm nicht gefiel. Wenigstens so viel Empathie sollte Lucius besitzen, dass er sich in meine Lage hineinversetzen konnte.

„Komm.", sagte ich knapp und kehrte ihm den Rücken zu. Nun begann der Raum komplett zu vereisen. Hastig sprang Lucius auf und folgte mir aus dem Raum hinaus. Aus den Augenwinkeln bekam ich mit, dass Lucius zitterte. Ob vor Kälte oder dem Schrecken von vorhin, konnte ich nicht sagen. Am Ende des Ganges kam eine graue Tür in Sicht. Der Aufzug. Meine Schritte wurden schneller. Nicht eine Sekunde länger als nötig wollte ich hier unten verbringen!

„Warte!", rief Varya, was mich zum Anhalten brachte. Fragend wandte ich mich ihr zu. „So kannst du nicht rausgehen. Der Aufzug hält genau in der großen Empfangshalle des Gebäudes. Dort befinden sich unheimlich viele Menschen und auch Sicherheitskräfte." Skeptisch hob ich eine Augenbraue. „Und was glaubst du, soll ich dagegen machen?"

Varya sah sich kurz um und entdeckte eine Tür, die noch nicht von meinem Eis erreicht worden war. „Vielleicht kommen wir hier raus, ohne kämpfen zu müssen.", sagte sie. „Auf jeden Fall sollten wir dir einen Mantel oder irgendetwas anderes besorgen, unter dem du dich ein bisschen verstecken kannst. Sonst werden gleich sofort unzählige Pistolen auf uns gerichtet sein." Ohne auf meine Reaktion zu warten huschte sie durch die Tür und kam wenige Sekunden danach wieder. In ihrer Hand hielt sie einen grauen, langen Mantel, dessen Kapuze glücklicherweise auch recht groß war. Wortlos reichte sie ihn mir.

„Danke.", murmelte ich und nahm ihn entgegen. Dies führte mir nur wieder vor Augen, dass es immer schlimmer kommen konnte. Wie ich mich noch vor kurzem geärgert hatte, dass es für mich nicht so leicht war, wie für Kieran, nicht aufzufallen. Nun war es mir gänzlich unmöglich, auch nur halbwegs normal zu sein. Aber darüber wollte ich nicht weiter nachdenken. Es führte zu nichts. Schnell streifte ich den Mantel über, zog mir die Kapuze tief ins Gesicht und schob meine Hände in die Seitentaschen. Varya nickte kurz und drückte auf den Knopf, der den Aufzug rief. Kaum eine Sekunde später glitt die Tür vor uns auf. Schon bevor wir eintraten fiel mir auf, dass die Wände des Aufzugs innen aus Spiegeln bestanden. Meine Laune sank noch tiefer, was ich kaum für möglich gehalten hatte. Wortlos trat ich ein. Lucius und Varya folgten mir. Während sich die Aufzugtür schloss, wurde nun auch der letzte freie Fleck von Clausens Untergeschoss mit Eis überzogen.

„Freya-", setzte Lucius an, doch mit einem leichten Kopfschütteln brachte ich ihn zum Schweigen. Einerseits tat es mir leid, dass ich ihn so behandelte, aber andererseits wusste ich, dass er es verdiente. Außerdem bereitete es mir ein wenig bitterer Genugtuung. Die Leuchtanzeige des Fahrstuhls zeigte eine rote „-3". Mit jeder Sekunde näherten wir uns der Freiheit. Uns stand nur noch eine ungewisse Zahl an Mutanten hassenden Politikern und Sicherheitskräften im Weg. Mit jeder Sekunde, die verging, wurde Varya zunehmend nervöser. Wie lange war es her, dass sie Clausens Keller verlassen hatte? Wann hatte sie zuletzt das Sonnenlicht auf ihrer Haut gespürt?

Zeitgleich, als die Anzeige „0" anzeigte, öffnete sich die Tür und Sonnenlicht durchflutete den Fahrstuhl. Vor uns erschien eine große Halle. Der Boden war mit großen, sauber polierten Fliesen bedeckt, die man hätte glatt als Spiegel verwenden können. Die Schritte der vielen Menschen hallten durch den Saal. Beschäftigte, hektische undaufgebrachte Menschen eilten umher. Viele von ihnen waren in Gespräche vertieft, die sie über ein Gerät führten, das man genauso für einen Ohrstecker hätte halten können. Zu unserer linken stand ein langer, weißer Tresen, an dem einige Angestellten saßen und sich um die verschiedensten Dinge kümmerten. Der Ausgang befand sich uns genau gegenüber. Die gesamte gegenüberliegende Wand bestand aus einer offenen Fensterfront, die einen guten Blick über das städtische Geschehen bot. Jedoch fielen mir sofort die Männer und Frauen in den schwarzen Anzügen auf, an deren Hüften griffbereite Pistolen hingen. Mit ernsten Mienen betrachteten sie jeden, der hinaus oder hinein ging.

„Unbemerkt kommen wir hier nicht raus.", stellte Lucius fest. Nun musste er seine Waffen schmerzlichst vermissen. Ihm gefiel es überhaupt nicht, unbewaffnet hier lang gehen zu müssen, wenn doch schon fast offensichtlich war, dass wir mit einem Schussgefecht rechnen mussten. Aber wir hatten keine andere Wahl. Ich konnte Lucius nur mit meinen Eismessern unterstützen, mehr konnte ich für ihn nicht tun. Und unbewaffnet wollte ich ihn auch nicht gehen lassen. Manchmal war es doch ganz praktisch, ein Mutant zu sein. Doch erst einmal mussten wir aus diesem Gebäude herauskommen. Optimal wäre es natürlich, wenn das ohne Schwierigkeiten von statten laufen würde. Allerdings glaubte ich kaum daran.

Freya Winter - MutantWhere stories live. Discover now