Kapitel 89

2.3K 210 6
                                    

Schwermütig musste ich mir ein Seufzen verkneifen. Letzteres fand ich persönlich besonders tragisch. Auch mein Bruder wirkte mitgenommen. Vermutlich dachten wir gerade an das Gleiche; wie es mit unserem Wiedersehen hätte laufen können. Vielleicht wäre es leichter gewesen, hätten wir uns beide in einer anderen Situation befunden. Oder es wäre eine unglaubliche Katastrophe gewesen. Ähnlich wie bei Brenda und ihrem Bruder.

Plötzlich öffnete sich die Tür, die in den Keller führte und die etwas ältere Mutantin betrat das Wohnzimmer. „Ich hoffe, ich störe nicht.", sagte sie. In ihren Händen hielt sie ein paar Blätter.

„Nein, nein.", meinte Enya und lächelte ihr zu. „Du störst nicht, Sanya."

„Wirklich? Wenn ihr gerade etwas Wichtiges besprecht, komme ich später wieder.", sagte Sanya und sah abwartend in die Runde. Das Papierin ihren Händen raschelte leise.

„Ach, was!", kam es von Samuel, der noch immer in der Küche stand. „Du störst wirklich nicht." Gerade goss er etwas heißes Wasser in eine Schüssel und schüttete die Nudeln hinterher. Platschend landeten sie in der Schüssel und Samuel ergriff ein kleines Tütchen, in dem sich eine dunkelbraune Flüssigkeit befand.

Hinter sich schloss Sanya die Kellertür und trat zu uns an die Sitzgruppe. Die Papiere, die sie in den Händen hielt, legte sie sorgsam nebeneinander auf den Tisch in unserer Mitte. Samuel, der die Flüssigkeit nun aus der Tüte in das Wasser gequetscht hatte, kam aus der Küche geeilt und reichte Enya ihr Essen und einen Löffel, sowie ein Glas Wasser.

Interessiert beugte er sich über die Papiere, die Sanya abgelegt hatte. „Was ist das?", wollte er wissen.

Sanya lächelte leicht verlegen und trotz ihres dunkleren Teints schien sie zu erröten. „Na ja.", begann sie und strich sich eine lange dunkelbraune Haarsträhne aus dem Gesicht. „Ich habe dich letztens darüber sprechen hören, dass wir allein es wohl nicht schaffen werden, unsere Rechte durchzusetzen. Selbst wenn es machbar wäre, wäre es unglaublich schwer. Deshalb habe ich mir in den letzten Tagen ein paar Gedanken gemacht. Wir brauchen die Menschen auf unserer Seite. Auch das wird schwer, das weiß ich. Aber irgendwie müssen wir anfangen. Und offensichtlich reicht es nicht, einfach auf die Straße zu gehen und große Reden zu schwingen. Wir werden dann sowieso nur angegriffen und in den Medien schlecht dargestellt."

Tief seufzend nickte Samuel. „Ja, das Thema hatten wir heute auch mal ganz kurz angeschnitten. Aber ich wollte das erst besprechen, wenn alle dabei sind." Neugierig inspizierte er die Blätter auf dem Tisch. Es waren insgesamt drei.

„Ich habe mir Gedanken über Flugblätter und Plakate gemacht.", erzählte Sanya. „Die könnten wir überall in der Stadt verteilen." Sie griff nach einem ihrer Blätter. Dabei fiel mir auf, dass sie im Verhältnis zu ihrem Körper relativ lange Arme und Finger hatte. Außerdem hatte sie dunkle, scharfe Krallen. Erst jetzt fiel mir zudem noch auf, dass sie gar keine Kette oder einen Schal um den Hals trug, wie ich bisher angenommen hatte. Stattdessen umrahmten hellbraune Federn ihren unteren Hals. Aber bisher hatte ich ihr auch noch nicht sonderlich viel Beachtung geschenkt. Jetzt jedoch tat ich es.

Sanyas Hals war etwas länger als gewöhnlich. Ihre Augen in einem gelblichen Braun. Doch im Vergleich zu manch anderen Mutanten, fiel das alles nicht sonderlich auf. Nur, wenn man sie genauer in Augenschein nahm, würde man sie als eine Mutantin identifizieren. Solange sie ihre Krallen irgendwie verbarg und den hellen Federkranzan ihrem Hals, hätte sie unter Menschen womöglich nichts zu befürchten.

„Na ja, noch sind es Skizzen, wie ihr sehen könnt.", fügte Sanya hinzu und grinste schief. „Aber ich denke, dass man daraus etwas machen kann." Sie blickte in die Runde und bemerkte, dass ich sie beobachtete. „Ah, ich habe mich noch gar nicht vorgestellt!", bemerkte sie plötzlich und legte ihr Blatt wieder auf den Tisch.„Mein Name ist Sanya Raji.", stellte sie sich vor. „Meine Nummer war 215." Nun schien sie meinen forschenden Blick richtig zu interpretieren und fügte hinzu: „Vielleicht ist es euch schon aufgefallen, dass ich Ähnlichkeiten mit einem Geier habe. Ich glaube, es ist ein Gänsegeier. Aber sicher bin ich mir nicht."

Entschuldigend lächelte ich sie an. Meine Musterung hätte nicht so offensichtlich sein sollen. Das war unhöflich. Aber Sanya winkte ab, ohne dass ich auch nur ein Wort sagen musste. „Schon gut. Schließlich sind wir doch alle neugierig, was für Mutanten wir vor uns haben.", meinte sie schief grinsend. „Es ist aber auch wirklich interessant. Bei dir muss ich wohl nicht lange raten, nehme ich an. Schlange, nicht wahr?"

„Das stimmt.", erwiderte ich. „Aber nicht nur. Die DNA von Raubkatzen wurde auch beigemischt. Welche allerdings, weiß ich nicht." Verstehend nickte Sanya und deutete mit einem Kopfnicken auf Samuel.„Seine Mutation hat irgendetwas mit einem Hai zu tun. Aber manchmal haben wir alle das Gefühl, als wäre das nicht alles. Doch wir werden es wohl nie erfahren.", sagte sie seufzend. „Uns hat man ja schließlich nicht wirklich aufgeklärt, nicht wahr?"

Samuel zuckte mit seinen Schultern. „Wohl wahr.", stimmte er ihr zu. „Aber ändern würde es auch nichts mehr. So lange wir ohne körperliche Beschwerden mit unseren Mutationen leben können, ist es mir ziemlich egal, was für eine Art von Serum mir verabreicht wurde." Er räusperte sich. „Aber um wieder auf deine Skizzen zu kommen ..." Eine Weile lang betrachtete er Sanyas Zeichnungen. Auch Enya, Lucius und ich beugten uns vor. Die erste Skizze zeigte offensichtlich einen Menschen und einen Mutanten, die sich gegenseitig die Hand reichten. Über ihren beiden Köpfen prangten die Worte: „Gleichheit und Frieden".

Auf der zweiten Skizze waren zwei kleine Kinder zu sehen. Sie beide waren wohl ein und die selbe Person. Nur war die eine ein Mensch und die andere ein Mutant. Während das menschliche Kind glücklich lächelnd am Betrachter vorbei sah, blickte das mutierte Kind den Betrachter traurig an. Über den beiden stand: „Erinnert euch! Wir sind keine Fremden!"

Schluckend riss ich meinen Blick von diesem Bild ab und widmete mich dem letzten. Sanyas erste Skizze fand ich schon gut, aber die zweite traf mich wirklich tief im Herzen. Sanya appellierte an die Menschen, die Augen nicht zu verschließen, nachzudenken. Sie deutete auf unsere menschliche Vergangenheit hin, wollte den Menschen zeigen, dass wir keine Monster waren, die aus dem Nichts aufgetaucht waren. Wir waren Töchter, Söhne, Neffen, Nichten, Nachbarn, Freunde.

Ein dicker Kloß im Hals erschwerte es mir zu schlucken. Lucius neben mir schien es ähnlich zu gehen. „Hättet ihr das doch nur früher schon gemacht ...", hörte ich ihn leise murmeln. So leise, dass vermutlich nur ich ihn hätte verstehen können, wären wir unter Menschen gewesen. Aber das waren wir nicht.

Samuel nickte betroffen. „Das hätten wir wohl.", sagte er mit belegter Stimme. „Vielleicht hätten wir vielen Leuten eine Menge Leid erspart."

Traurig lächelte Enya. Sanft tätschelte sie Samuels Schulter. „Es läuft selten so, wie es laufen sollte.", sprach sie leise. „Aber wir versuchen unser Bestes. Auch, wenn wir noch am Anfang stehen." Besorgt runzelte sich ihre Stirn. „Ich weiß nur nicht, wie wir das mit den Flugblättern und Plakaten bewältigen sollen. Dank Sanya haben wir gute Vorlagen, doch wie sollen wir die anfertigen? Ich habe nicht genug Geld, um zahlreiche Plakate und Flugblätter zu drucken oder gar in Auftrag zu geben. Zumal niemand so einen Auftrag annehmen würde."

Freya Winter - MutantWhere stories live. Discover now