Kapitel 97.4

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»Wir können nicht ewig hierbleiben.«, stellte Liam entschlossen klar.

Dieses Mal war es an Audra zu seufzen. »Und ich hatte es doch so sehr gehofft.«, murmelte sie betroffen. Das hatten wir vermutlich alle. Aber auch mir war klar, dass es sich bei unserem Aufenthalt nur um eine kleine Pause handeln konnte. Dies hier war nur ein Zwischenstopp auf unserem Weg. Wohin auch immer dieser uns führen mochte. Auch war ich m mir sicher, dass wir noch längst nicht am Ziel angelangt waren. Wollte ich überhaupt wissen, wie dieses Ziel aussah? Ich persönlich konnte für mich nur zwei verschiedene Enden sehen. Und eines davon war der Tod. Dunkel und bedrohlich lauerte er über mir wie ein Puppenspieler, in dessen bleichen Händen meine Fäden hingen. Das Wissen um seine stetig lauernde Anwesenheit schien mich schier zu erdrücken. Aber ich war nicht gewillt, mich dem wehrlos hinzugeben. Nein, wenn ich konnte, würde ich alles tun, was in meiner Macht stand, um diese Fäden zu kappen. Vielleicht gab es Hoffnung. Doch wir mussten wagen, nach ihr zu greifen. Ob wir sie letztendlich in unseren Händen halten würden, war eine ganz andere Frage.

Plötzlich ergriff Kieran das Wort. »Wie haben wir bisher für die Verpflegung gesorgt?«, wollte er wissen. »Hier war selbstverständlich vorher keine. Immerhin hat hier niemand gewohnt.«

Stirnrunzelnd sah Liam zu Kieran. »Na, was glaubst du denn? Hast du denn seit wir hier sind, gar nichts mitbekommen? Wir waren einkaufen.« Er betrachtete den anderen Mutanten, als hätte dieser ihn gefragt, was eins plus eins wäre. Dieser jedoch ignorierte Liams Verständnislosigkeit und sprach weiter, als wäre die Antwort ohnehin egal gewesen und würde bloß der Bestätigung dessen dienen, was er sich sowieso bereits gedacht hatte. Oder als Denkanstoß, den Liam nicht als solchen wahrnahm.

»Einkaufen. Morvah ist ein sehr kleines Dorf. Soweit ich mich erinnere, habe ich hier keinen Supermark oder dergleichen gesehen.«, fuhr Kieran unberührt fort. »Das bedeutet, dass wir immer in eine größere Stadt fahren müssen. Wir sind also immer mit demselben Wagen und demselben Kennzeichen dieselbe Strecke gefahren. In der Stadt mag das noch in Ordnung sein, doch hier fällt das auf.« Ernst blickte er in die Runde.

Audra nickte verstehend. »Das Dorf ist sehr klein.«, wiederholte sie. »Ein einzelner fremder Wagen fällt schon auf. Und dann fährt er auch immer die gleiche Strecke. - In Richtung Klippen.« Die Sorge ließ ihre Stirn kräuseln. Dunkle Schatten legten sich wie ein Schleier über ihr Gesicht. »Wir haben bestimmt schon Aufmerksamkeit auf uns gezogen.«, schlussfolgerte sie unruhig.

»Spätestens nachdem auch Bill – mit einem weiteren fremden Wagen – hierher gefahren ist. Und im Gegensatz zu uns hat er direkt hier vor der Tür geparkt. Und wenn das schon keiner gesehen hat, werden sie die Reifenabdrücke bemerken und bis hierher verfolgen können.«, führte Kieran seinen Gedankengang weiter aus.

»Uns bleibt nicht mehr viel Zeit.«, stellte ich trocken fest. Mit einem Mal fühlte ich mich leer. Ich hätte besorgt sein müssen. Sogar Angst haben müssen. Aber da war nichts. Rein gar nichts. In meinem Inneren regte sich nichts. Ich war gerade erst hier angekommen. In der Hoffnung, Abstand zu all dem Geschehenen zu bekommen. Aber die Auszeit war nicht von langer Dauer. Das war mir bereits klar gewesen. Nicht jedoch, dass sie womöglich schon so bald enden würde.

Liam war anzusehen, dass es ihm widerstrebte, Kieran zuzustimmen. »Wir sollten also packen.«, murmelte er gedankenverloren. »Wir müssten noch genug Proviant haben, wenn James uns nicht die Schränke ausgeräumt hat.«

»Hat er nicht.«, erwiderte Audra. »Ich habe darauf geachtet, dass er für sich und die anderen nur das Nötigste mitnimmt.« Sie umklammerte das Deko-Kissen so fest, als würde sie es niemals wieder loslassen wollen. Als würde es ihr Halt geben, nicht in diesem Strudel aus Gefahr und Unruhe zu versinken. »Wie lange noch?« Ihre Stimme klang ganz leise.

Kierans Blick sagte mir ganz deutlich, dass er am liebsten jetzt sofort losfahren würde. Doch überraschenderweise sagte er etwas anderes. »Morgen. Allerspätestens übermorgen in der Früh. Ansonsten würden die Chancen sich deutlich erhöhen, dass die Elitejäger oder die Dorfbewohner auf uns aufmerksam werden.« Er wollte Audra schonen, wurde mir plötzlich klar. Tatsächlich schluckte er seine Vernunft hinunter – zwar nur widerwillig - , aber er tat es. Audra zuliebe. Kieran war ein aufmerksamer Beobachter. Und darum wusste er auch, wie es ihr ging und dass sie noch nicht bereit war. Die Vernunft hatte er niedergerungen. Dennoch fragte ich mich, ob das so klug war. Das passte so gar nicht zu ihm.

Am liebsten hätte ich ihm widersprochen. Das gesagt, was er verschwieg. Dass wir sofort aufbrechen mussten. Aber Audra war die Erschöpfung nach wie vor deutlich anzusehen. Die dunklen Schatten unter ihren Augen, die Müdigkeit, die schwer in ihren Gliedern saß. Aber konnten wir darauf wirklich Rücksicht nehmen? »Wir sollten nicht warten.«, entgegnete ich mit fester Stimme. Kierans nachdenklicher Blick schwenkte zu mir. Doch meine Worte schienen ihn nicht zu verärgern. Natürlich nicht. In seinen Augen sah ich stille Zustimmung.

»Nein.«, sagte Liam entschlossen. »Wir sollten noch warten. Morgen Abend können wir fahren. Aber die letzten Stunden sollten wir so viel Ruhe tanken, wie möglich. Ich habe das Gefühl, dass wir danach lange nicht mehr die Gelegenheit dazu haben werden.« Und mit einem Mal verstand ich, weshalb Kieran nicht heute schon hatte aufbrechen wollen. Zum Teil war es Audra zuliebe. Aber dennoch überwog seine Vernunft. Noch bevor er ich meine Worte sprach, hatte er gewusst, wie Liam darauf reagieren würde. Und er verschwendete seine Energie nicht auf Diskussionen, die zu nichts führen. In dieser Sache würde er gegen Liam nicht gewinnen können. Das hier war nicht seine Familie. Er war ein Außenstehender. Dementsprechend wenig Gewicht mochten hier seine Entscheidungen haben. Audra war erschöpft. Das ließ sich nicht leugnen. Audra brauchte diese eine Nacht noch Ruhe. Vielleicht auch, um sich auf das Kommende vorzubereiten. Außerdem waren sie hier bisher sicher gewesen. Wieso sollte sich das so schnell ändern? Darauf griff wohl Liam zurück. Die eine Nacht würde für ihn keinen Unterschied machen.

Ohne ein weiteres Wort zu sagen, erhob Kieran sich und verließ das Wohnzimmer. »Er ist immer so mies gelaunt.«, sagte Liam. Es war keine miese Laune, sondern einfach seine Art. Kieran war nicht der Typ, der großartig Emotionen zeigte oder das, was in seinem Kopf vorging. Auf einmal fiel mir ein, dass Kieran am Anfang ganz anders gewesen war. Da hatte er beinahe wie ein ganz gewöhnlicher Kerl gewirkt. Natürlich abgesehen von seiner Mutation. Vielleicht nicht, als wir in das Haus der Severos eingebrochen waren. Da war er noch sehr misstrauisch und ernst gewesen. Nicht mehr jedoch, als ich ihn danach ein paar Male gesehen hatte. Da hatte er gelächelt und war einfühlsam gewesen. Hatte Gefühle gezeigt. Allerdings nicht mehr, als wir von Zuhause geflohen waren. Dazwischen hatte er sich überhaupt nicht wie er selbst benommen. Hatte er etwa so getan, als sei er jemand, der er nicht war? Um sich anzupassen und bei den Severos sowie in unserer Straße weniger aufzufallen? Anders konnte ich mir das nicht erklären. Vielleicht würde ich ihn eines Tages darauf ansprechen.

Als auch ich das Wohnzimmer verlassen wollte, stand Liam schnell auf und zog mich beiseite. Mit einem Blick auf Audra prüfte er, ob sie uns gerade nicht zuhörte. Skeptisch zog ich eine Augenbraue hoch. »Was ist?«, wollte ich wissen.

»Hör mal, ich halte es wirklich für eine bessere Idee, erst morgen Abend von hier zu verschwinden.«, machte er seinen Standpunkt noch einmal klar.

»Das sagtest du bereits.«, erwiderte ich.

Gequält sah er mich an. »Mensch, Frey.«, murmelte er. Als er weitersprach, war seine Stimme ganz sanft. »Audra benötigt noch ein wenig Ruhe. Außerdem hatte sie noch immer nicht genug Zeit zum Trauern.«

»Die haben wir alle nicht.«

»Ja, aber hör mir zu.« Liam griff vorsichtig nach meinen Schultern und sah mich eindringlich an. »Ihr braucht Ruhe. Beide.« Nun war ich wirklich irritiert. Ruhe wäre schön, keine Frage. Doch ich konnte sie mir nicht leisten. Zudem war ich weder erschöpft, noch fühlte ich mich nicht bereit.

»Ich brauche keine Ruhe.«, sagte ich. Doch Liam schüttelte den Kopf.

»Du hast so viel durchgemacht. Ein paar ruhige Stunden hast du dir verdient. Wenigstens einmal sollst du noch in Frieden schlafen können. Wenn wir morgen Abend fahren, ist das immer noch früh genug. Genieße den Tag, Freya. Bitte.« Flehend und traurig blickten seine rubinroten Augen mir entgegen. »Wir sind schon so lange hier. Die paar Stunden mehr werden nichts ändern.« Hoffentlich irrte er sich nicht. Dennoch lenkte ich mit einem langsamen Nicken ein. Er würde sich nicht überreden lassen. Mir bliebt nichts anderes übrig, als zu hoffen, dass das keine Konsequenzen haben würde. 

Freya Winter - MutantWhere stories live. Discover now