Kapitel 93.5

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Fassungslos starrte ich Lucius an. Was er mir da sagte, klang grauenvoll. Und noch immer konnte ich mir nur schwer vorstellen, dass Mutanten anderen Mutanten etwas antun wollten. So etwas hatte ich noch nie erlebt. Auch die Mutanten, damals im Wald, die die Jäger gejagt hatten, hatten innegehalten und hatten Liam, Kieran und mich aus unserem Käfig befreien wollen. Sobald sie uns gesehen hatten, war mir das wie ihr oberstes Ziel erschienen.

Wie also war es dazu gekommen, dass diese Gruppe von Mutanten Jagd auf Mutanten machte? Taten sie es, weil es ihnen Freude bereitete? Fühlten sie sich anderen dann überlegen. Nein, das konnte es nicht sein. Wenn es stimmte, was Lucius gesagt hatte, und sie wirklich ihre Gefühle abgeschaltet hatten, waren sie nicht mehr dazu in der Lage, Freude zu verspüren. Aber es musste doch einen Grund geben!

Unaufhaltsam näherten sich die Mutanten der Familie. Nun stand der jungen Mutter die Panik offen ins Gesicht geschrieben. Leise flüsterte sie auf ihre Kinder ein und wollte das Kind, den kleinen Jungen, der die Hand seines Vaters hielt, von ihm losziehen. Der Kleine wehrte sich klagend. Dennoch verlor er gegen seine Mutter. Sobald seine Hand sich von der des jungen Mannes löste, kreischte er empört auf, als seine Mutter ihn mit sich und von seinem Vater fort zog. Dieser warf seiner Familie einen letzten traurigen Blick zu, ehe er sich den Mutanten zuwandte. Er wirkte bereit. Er würde seine Familie verteidigen. Bis zum Ende.

Warnend knurrte er die Mutanten an. Erst jetzt fielen mir seine kaum merklich spitzen Zähne auf. Wenn man nicht so genau hinsah, konnten sie tatsächlich als menschliche Zähne durchgehen.

Die Elitesoldaten jedoch konnte er nicht einschüchtern. Unberührt schritten sie weiterhin auf ihn zu. Sie zuckten noch nicht einmal oder gaben sonst eine Regung von sich. Ihm war anzusehen, dass er wusste, dass er ihnen nichts Großartiges entgegenzusetzen hatte. Er wollte bloß Zeit schinden, damit seine Familie entkommen konnte. Er war bereit, sich selbst zu opfern.

Dabei war er selbst noch jung. Er konnte nicht älter als dreiundzwanzig sein. Und auch seine Frau wirkte nicht älter als fünfundzwanzig. Dennoch waren sie beide bereit, für ihre Familie zu kämpfen. Mit strammen Schritten eilte die Frau auf eines der Autos zu. Ihre Finger hielten die Handgelenke ihrer Kinder fest umschlungen.

Wortlos zog der Mutant mit der Waffe seine Pistole. Vollkommen gleichgültig zielte er damit auf den jungen Vater. Dieser war offensichtlich verzweifelt. Die Elitesoldaten dagegen wirkten ruhig. Sie schienen sich ihrer Sache vollkommen sicher zu sein. Als hätten sie das schon unzählige Male zuvor getan.

„Wir können hier nicht einfach untätig herum sitzen!", zischte ich meinem Bruder zu. Gerade lösten sich zwei der Mutanten aus der Gruppe. Einer davon war der Fledermausjunge. Plötzlich breitete er seine gewaltigen Flügel aus, deren Anblick allein schon mir Respekt einflößte. Sicherlich hatten sie eine Spannweite von mindestens vier Metern. Mit kraftvollen Schlägen erhob er sich in die Luft, während der andere Mutant ihm vom Boden aus Rückendeckung gab. Es war ein beängstigender Anblick, wie der Fledermausmutant sich durch die Luft bewegte. Problemlos flog er über jungen Vater herüber,  auf dessen Gesicht sich eine Maske des Entsetzen gelegt hatte. Der junge Mann konnte nichts tun, um den Mutanten aufzuhalten. Zielsicher schoss er über den Himmel, genau auf die Frau und die beiden Kinder zu.

Endlich reagierte der Vater. „NEIN!", schrie er und drehte sich sofort um, kehrte der restlichen Gruppe den Rücken zu und rannte auf seine Familie zu. Doch den Flugmutanten würde er nicht mehr einholen.

Hinter ihm legte sich der Zeigefinger des Mutanten gelassen auf den Abzug der Pistole. Er zielte genau auf den Kopf des Vaters. Dass sein Ziel davonrannte, erschien ihm nicht wie ein Ärgernis.

Beinahe automatisch wanderte meine Hand zum Türgriff. „Freya, nicht!", mahnte mein Zwilling eindringlich. „Wir dürfen ihre Aufmerksamkeit nicht auf uns ziehen!" Genau das war wohl auch der Gedanke der Leute gewesen, die sich zuvor noch auf dem Rastplatz befunden hatten. Erst jetzt bemerkte ich, dass niemand mehr da war. Die meisten der Autos waren weg, nur ein paar verängstigte Gesichter waren hinter der Glasscheibe der Tankstelle zu entdecken. Aber hier draußen war es wie leergefegt.

„Ich habe vielleicht kein Training gehabt, das heißt aber nicht, dass ich einfach tatenlos zusehen muss!", knurrte ich Lucius zu. Ein lauter Knall ließ mich mit schmerzverzerrtem Gesicht zusammenzucken. Beinahe instinktiv riss ich meine rechte Hand hoch. Augenblicklich schoss eine dicke Eiswand aus dem Boden. Und das nicht eine Sekunde zu früh. Die Kugel bohrte sich in das Eis und der junge Vater keuchte erschrocken auf. Für einen Augenblick starrte er die Eiswand verwirrt an, ehe er sich anscheinend dazu entschied, sich darüber später zu wundern und wieder die Verfolgung aufnahm. Allerdings war es dafür zu spät.

Der Fledermausmutant war bei der Frau angekommen und versperrte ihr den Weg. Die anderen Mutanten starrten noch immer mein Eis an, ehe ihre Blicke analysierend über den Rastplatz wanderten. Fluchend duckte Lucius sich. Doch es brachte nichts mehr. Einer von ihnen hatte seine Bewegung bereits registriert. Darum machte er seine Kameraden auf unseren Wagen aufmerksam. „Raus!", rief Lucius, stieß die Tür auf und sprang aus dem Auto. Wenn die Elitesoldaten uns noch im Inneren des Autos erwischten, wäre es vorbei. Auch ich verließ schnell den schäbigen Wagen. Kurz scannten uns die Augen der Mutanten, ehe sie sich anscheinend dafür entschieden, dass ich wohl die größere Bedrohung darstellte.

„Dreiundneunzig.", sagte das Mädchen mit den weißen fuchsähnlichen Ohren. Ihre braun-gelben Augen registrierten jede meiner Bewegungen.

„Lebendig oder tot?", fragte der Junge mit der Waffe beiläufig. Der Vater war nicht mehr länger sein Ziel.

„Tot.", antwortete das Mädchen gleichgültig. Ein knappes Nicken von den anderen.

„Kümmere du dich um die Familie.", sagte ich zu Lucius.

„Überschätze dich nicht.", warnte Lucius, ehe er sich abwandte, um dem Vater und seiner Familie zur Hilfe zu kommen. Die Worte meines Bruders gingen mir nicht mehr aus dem Kopf. Es mochte zwar sein, dass diese Mutanten vor mir ein eingespieltes Team war, das ein hartes Training durchlaufen war. Im Kampf mochten sie mir überlegen sein. Aber ich hatte mehr Optionen, als einen Kampf zu beginnen, den ich womöglich nicht gewinnen konnte. Dennoch sollte mein Zwilling mich auch nicht unterschätzen. Noch mochte ich vielleicht immer noch nicht das wahre Ausmaß meiner Kräfte kennen, doch das bedeutete nicht, dass ich keinen Plan hatte. Ich konnte sie durchaus einsetzen, um uns zu retten. Ich musste bloß schnell sein, ehe die feindlichen Mutanten sich verstreuten.

Noch standen sie in einer geschlossenen Formation. Und genau das war meine Chance. Ohne auch nur einen von ihnen aus den Augen zu lassen, riss ich meine Arme hoch. Augenblicklich schossen vier eisige Wände aus dem Boden und umschlossen die Gruppe. Durch die Kälte ging weißer Dampf von ihnen aus.

Dass sie nun eingesperrt waren, schien die Mutanten jedoch nicht zu kümmern. Der Mutant mit der Waffe begann eine Salve aus Kugeln auf die Eiswand abzufeuern. Jede von ihnen traf ein und die selbe Stelle. Immer weiter bohrten sich die Kugeln in das Eis. Ein anderer fing an, mit seinen Krallen konzentriert auf mein Eis einzuschlagen. Und eines der Mädchen bohrte ihre Krallen ins Eis und begann zu klettern. Niemand von ihnen verlor die Fassung oder verfiel in Panik. Sie behielten die Ruhe und testeten aus, wie sie mein kaltes Gefängnis überwinden konnten.

Langsam bewegte ich meine flache Handfläche nach vorne. Aus dem Nicht sentstand eine Platte aus in der Sonne funkelndem Eis, die sich auf die vier weißen Wände legte und sich sogleich mit ihnen verband. Außerdem schloss sich das Loch, das der Mutant mit der Pistole in das Eis geschossen hatte. Zusätzlich verstärkte ich die Härte des Eises. Nun dürfte es ihm schwerer fallen, meine Wände zu zerstören. Sicherheitshalber ließ ich mein improvisiertes Gefängnis von einer zweiten dicken Eisschicht umschließen. Erst einmal sollte das reichen, sodass ich Lucius nun helfen konnte. 

Freya Winter - MutantWhere stories live. Discover now