Kapitel 63

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Kapitel 63

Lucius glaubte mir nicht. Wieso also sollte er es ausgerechnet jetzt glauben? Er hatte doch wohl kaum eine Erkenntnis gehabt. Innerlich schüttelte ich meinen Kopf über meine kurze Hoffnung, dass er mir vielleicht doch glaubte. „Das mit den Ketten war einfacher als gedacht.", sagte Kieran, der meinem Bruder noch immer ungläubig hinterher starrte.

„Wie kam es zu seinem Sinneswandel?", wollte Liam nachdenklich wissen. Kieran und ich zuckten mit den Schultern. Mein Blick schweifte zu den Jägern, die nun wieder angeregt diskutierten. Was war nur mit denen los? Leider lag immer noch dieses Gerät bei ihnen, sodass ich nicht verstand was sie sagten. „Also, die Fesseln sind wir schon einmal los.", sagte Liam. „Jetzt müssen wir nur noch die Jäger dazu bringen uns zu Audras Gefängnis zu fahren." Es war ein nachdenkliches „Hm mh" zu hören.

„Wie wäre es, wenn wir einfach fragen?", schlug Kieran genervt vor. Ungeduldig wippte er mit seinem Fuß. Ebenso genervt sah Liam ihn an. „Wie wäre es, wenn du einfach mal ernsthaft nachdenkst, Kieran?", sagte Liam trocken. Ich verdrehte meine Augen. Konnten die beiden sich nicht zusammenreißen? Wir hatten gerade wirklich andere Probleme. „Wie wäre es, wenn du einfach mal die Klappe hältst?", knurrte Kieran und funkelte Liam finster an.

Liam setzte an etwas darauf zu erwidern, doch ich kam ihm zuvor. „Wie wäre es, wenn ihr beide einfach mal überhaupt nichts sagt?!", zischte ich. Liam und Kieran mieden meinen Blick, gaben vor mit irgendetwas beschäftigt zu sein. Beide musterten eingehend den Boden vor ihren Füßen. Plötzlich lief Kieran mit zielsicheren Schritten auf die Jäger zu. „Bitte sag mir, dass er nicht das vorhat, was ich denke!", stöhnte Liam. „Doch, ich glaube, genau das hat er vor.", stellte ich fest. Die Jäger blickten von ihrer Diskussion auf, als sie Kieran auf sich zugehen sahen. „Jetzt komm!", sagte ich zu Liam. „Oder willst du ihn alleine mit denen reden lassen?"

Entsetzt riss Liam seine Augen auf. „Nein! Auf gar keinen Fall!", rief er aus, schnappte mein Handgelenk und zog mich mit sich zu Kieran und den Jägern. Nun konnte ich sie auch hören. Anscheinend war dieses Gerät nicht nur speziell auf Mutanten eingerichtet. Menschen würden uns nicht hören, hätten wir das bei uns. Interessant. Gerade starrten die Jäger Kieran zweifelnd an. „Das Gefängnis?", fragte Brenda skeptisch. Anscheinend hatte Kieran seine Frage schon gestellt. Liam kam da wohl ein wenig zu spät. Er fluchte leise. „Natürlich. Oder hast du mich nicht verstanden?", fragte Kieran mit einem provozierenden Grinsen. Levi sah nicht sehr überzeugt aus. „Wir sollen euch zum Gefängnis von London bringen?", fragte er skeptisch. Kierans Grinsen erlosch. „Ja, oder hast du mir etwa nicht zugehört? Was kann man daran denn bitte nicht verstehen?", fragte er gereizt. Das wird so doch nichts. Und jetzt konnten wir uns nicht einmal mehr eine Lüge ausdenken. Dafür war es nämlich bereits schon zu spät. Nun meldete sich Jo zu Wort. „Ihr wollt also in ein streng bewachtes Gefängnis einbrechen und einem Menschen zur Flucht verhelfen.", fasste sie zusammen. Kieran nickte. „Endlich hat es jemand verstanden! Wurde ja auch Zeit!" Er grinste wieder. Liam und ich tauschten einen kurzen Blick. Kieran war sich ziemlich sicher mit dem was er da tat. Ich konnte nur hofften, dass er damit Erfolg hatte. „Du weißt aber schon, dass du da nicht so leicht rein und noch schwerer mit einer Gefangenen wieder raus kommst?", bemerkte Mikéle. „Natürlich weiß ich das. Außerdem sind wir doch zu dritt. Wegen denen mache ich das doch überhaupt!", stellte Kieran klar und deutete auf Liam und mich. „Im Gegensatz zu den beiden kenne ich Mrs Harris nicht."

„Aber man wird euch jagen.", sagte James. Kieran zuckte mit seinen Schultern. „Na und? Kein großer Unterschied zu jetzt." Ach ja. Wir waren immer noch auf der Flucht vor diesen Agenten. Ich hatte es tatsächlich vergessen. Stille breitete sich in der Halle aus. Es war unangenehm weil keiner wusste was er sagen sollte. Allerdings hatten die Jäger auf unser Vorhaben nicht so abstoßen gewirkt wie ich es gedacht hatte. Vielleicht würden sie wirklich noch einwilligen uns dort hin zu bringen. „Okay.", kam es auf einmal von Lucius.

„Was?", fragte Levi. Er sah verwirrt aus.

„Okay.", wiederholte Lucius. Dann wandte er sich an Liam, Kieran und mich. „Wir fahren euch." Mit einem Seitenblick auf seine Jäger fügte er noch hinzu: „Und wir warten bis ihr wieder draußen seid." Empört wollte Brenda etwas entgegnen, doch unter Lucius' Blick blieb sie dann doch lieber still. Ich konnte Lucius nur vollkommen verwirrt ansehen. Weshalb tat er das? Erst das mit unseren Fesseln und jetzt das. Irgendetwas war doch mit ihm los. Auch wie er mich heute ansah war vollkommen anders als gestern. „Wir können noch heute fahren.", sagte Lucius und blickte auf seine Armbanduhr. „Wir müssten nur einmal irgendwo übernachten."

„Gut.", sagte Kieran begeistert grinsend. „Dann wäre das wohl geklärt." Er drehte sich mit einem herausfordernden Grinsen zu Liam um. „Siehst du. So einfach ist es." Liam öffnete seinen Mund um etwas darauf zu erwidern, doch ich stieß ihm mit meinem Ellenbogen einmal in die Seite. Er hielt seinen Mund. „Packt alles zusammen.", befahl mein Bruder seinen Jägern, die auch sogleich anfingen Dinge aufzusammeln. Liam schien sichtlich erleichtert von diesem kalten Ort wieder zu verschwinden. Zum Glück lag hier nicht viel Zeug von den Jägern herum und wir befanden uns auch kurz darauf wieder im Wagen. Wir hatten alle die selben Plätze eingenommen wie bei der Hinfahrt. Allerdings konnten wir uns dieses mal allein anschnallen. Wieder einmal fuhr Levi, doch jetzt fuhr er von Anfang an vorsichtiger. Er hatte es also nicht vergessen.

Levi parkte den Wagen auf einem kleinen, leeren Parkplatz vor einem Wald. Aus dem Kofferraum holten die Jäger ihre Rucksäcke. Liam, Kieran und ich stiegen aus. Es war schon ziemlich dunkel, weswegen Lucius, James, Mikéle, Jo, Levi und Brenda jeder ihre eigene Taschenlampe anschaltete. Lucius lief voran und wir anderen folgten. Der Wald war ziemlich still und ich bemerkte diesen typischen Waldgeruch. Dämmeriges Licht durchdrang das Blätterdach, während die Blätter und die Äste unter unseren Füßen knisterten und knackten. In der Nähe eines kleinen Sees machte wir Halt. „Hier können wir die Zelte aufbauen.", sagte Lucius und setzte seinen Rucksack am Boden ab. Die anderen taten es ihm gleich. Diese Zelte bauten sich mit einem Knopfdruck von ganz allein auf. Praktisch. Jo hatte bereits mit einem kleinen Lagerfeuer begonnen. „Ähm, wo schlafen eigentlich die Mutationen?", stellte Brenda die Frage, die mir im Kopf herum spukte. Wir schliefen doch nicht wieder auf dem Waldboden. Oder? „Wir teilen unsere Zelte auf. Wir haben immerhin drei davon. Es müssen dann drei Leute in ein Zelt.", sagte Mikéle als sei es selbstverständlich. Er zeigte auf das Zelt, das er gerade per Knopfdruck aufgebaut hatte. „Da könnt ihr rein.", sagte er zu uns. „Es ist genug Platz." Ich musterte das Zelt. Kaum zu glauben, dass das in einen Rucksack gepasst hatte, zudem nicht einmal nur das Zelt dort drin gewesen war.

Wenige Minuten später befanden Liam, Kieran und ich uns in unserem Zelt. Jo hatte noch eine Decke übrig gehabt, die wir uns alle teilen mussten. Da es mir mit Decke allerdings zu warm war, hatte ich sie Liam und Kieran überlassen. Beide waren nicht sehr begeistert gewesen sich nun eine Decke teilen zu müssen. Doch wenn die beiden es warm haben wollten, mussten sie jetzt dieses Opfer bringen. Wieder tauchten in meinem Kopf diese Gedanken auf. Wir hatten überhaupt keinen Plan wie wir bei Audras Flucht vorgehen wollten. Wir wussten nicht wie wir in das Gefängnis kamen, geschweige denn wie wir wieder hinaus sollten. Das konnte doch nur schief gehen.

Freya Winter - MutantWhere stories live. Discover now