Kapitel 90.3

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„Spanien fordert globale Hilfe für Mutanten.", ging es mit den Nachrichten weiter. „Momentan versucht Spanien die Angelegenheit mit den Mutanten noch mit Worten zu lösen. Dieses Mal verlangt die spanische Regierung, die bisher jedem Mutanten Zuflucht gewährt und sie in ihre Gesellschaft eingliedern, die ganze Welt von ihrem Konzept zu überzeugen." Es wurde ein großer Saal eingeblendet mit unzähligen Sitzen. Auch hier gab es wieder ein Rednerpult, hinter dem die spanische Flagge zu sehen war. Dann wurde eine kleine Frau mit dunklen Haaren gezeigt. Wild gestikulierte sie und redete in schnellem Spanisch. Dieses Mal wurde das Gesagte nicht wortwörtlich übersetzt, sondern nur zusammengefasst wiedergegeben. „Spaniens Premierministerin Gonzales weist auf die Umgehensweisen verschiedener Länder mit Mutationen hin. Laut ihr wäre es widerwärtig und abscheulich, wie mit ihnen umgegangen würde. Darum verlangt sie, dass sich die Regierungsoberhäupter zahlreicher Länder zusammensetzen und zu einer globalen Entscheidung kommen sollen, wie überall mit den Mutationen verfahren werden solle. Als einen Vorschlag nennt sie das System ihres eigenen Landes: Freiheit und Gleichheit für Mutationen." Zwar bemühte sich der Reporter, der seinen Bericht vortrug, eine neutralen Ton beizubehalten, doch er versagte haushoch. Seine Stimme klang absolut abwertend. Und das machte mich wütend. Wieso waren die Menschen hier so fest gefahren inihrem Denken? Konnten sie sich nicht einmal in andere Systeme und Denkweisen hineinversetzen? Leider gab es von solchen Menschen viel zu viele auf dieser Welt.

Es wurde zum nächsten Thema gewechselt. „Heute Mittag hat die Regierung beschlossen, dass weitere Milliarden von Pfund für die Forschung bereitgestellt werden sollen.", sprach der Reporter, der vor dem Parlament stand. „Dieses Geld soll den Wissenschaftlern und Forschern helfen, die Körper der Mutationen zu verstehen. Auf Basis dieser Erkenntnisse können dann weitere Technologien entwickelt werden." Dieses Mal unterbrach die Nachrichtensprecherin den Reporter. Man sah ihr an, wie nervös sie dabei war. „Sie sagten, dass weitere Technologien entwickelt werden.", sprach sie und räusperte sich. „Von was für welchen ist denn hier die Rede?"

Überrascht zog Samuel seine Augenbrauen hoch. „Das hat sie jetzt nicht wirklich gefragt?", murmelte er. „Es ist doch schon seit Jahren klar, dass die dort nicht an neuen Technologien für den Alltag arbeiten. Sonst hätten wir wahrscheinlich schon vor fünfzehn Jahren fliegende Autos gehabt!" Kopfschüttelnd schnaubte er.

„Aber so lange gibt es die Mutanten doch noch gar nicht.", entgegnete Lucius, vor dem eine halb aufgeblasene Luftmatratze lag. Trocken lachte Samuel. Seine tiefschwarzen Augen legten sich auf meinen Bruder.

„Nein. Aber überlege doch mal.", sagte Samuel ernst. „Meinst du, wir Mutanten sind von heute auf morgen entstanden? Die Wissenschaftler haben einfach spaßeshalber irgendwelche Serums zusammengemischt und wollten mal sehen, was daraus wird?" Er schüttelte seinen Kopf. „Das war alles geplant. Jahrelang geplant. Allein eines dieser Serums benötigte sicher unzählige Jahre der Forschung, bis die Wissenschaftler irgendwann ein fertiges, funktionstüchtiges Serum in ihren Händen hielten." Fest presste Samuel seine Lippen aufeinander. In diesem Moment sah er unfassbar verbittert aus. „Hast du niemals darüber nachgedacht, wie Ambrosia es überhaupt schaffen konnte, sich ihre gesamte Existenz aufzubauen? Die Labore, die Geräte, die Angestellten ... Und das ist noch lange nicht alles. Sie brauchten Geld. Unmengen an Geld." Finster sah Samuel wieder auf den Fernseher. Noch immer war das Parlament zu sehen. „Ich glaube, Ambrosia wurde finanziert. Nicht nur von Spenden von Privatleuten, die irgendwie Wind davon bekommen haben, nein. Ich glaube, dass die Regierung etwas damit zu tun hatte. Es gibt genügend korrupte Politiker. Vielleicht hatten sie sich von Ambrosia etwas erhofft. Es mag sein, dass ein Großteil der Politiker nie etwas von Ambrosia erfahren hat. Aber es ist beinahe unmöglich, dass sich Ambrosia ohne die Hilfe der Regierung finanzieren konnte."

Fest lagen meine Augen auf Samuel. Glaubte er das wirklich? Darüber hatte ich mir noch nie Gedanken gemacht. Natürlich stimmte es, dass Ambrosia unglaublich viel Geld haben musste. Sonst hätten sie sich die Ausstattung, die Räumlichkeiten und das Personal gar nicht leisten können. Außerdem wurde Ambrosia bis zu unserem Ausbruch nie entdeckt. Im Nachhinein war das schon ziemlich seltsam. Eine solch große Forschungseinrichtung müsste doch irgendwann einmal bemerkt werden. Hatte die Regierung etwa etwas damit zu tun? Hatte sie dafür gesorgt, dass Ambrosia so lange unentdeckt weiter agieren konnte? Aber es wurden Kinder entführt! Und Experimente an Menschen durchgeführt! Ganz zu schweigen von dem Ziel der Wissenschaftler. Nichts gerechtfertigte es, dass eine solche Organisation ungestört weitermachen durfte. In meinen Gedanken tauchte eine große, dürre Gestalt auf. Dunkles, angegrautes Haar, das zu einem strengen Knoten zurückgebunden wurde. Ein Gesicht, das voller Falten war mit heruntergezogenen Mundwinkeln. Und grauen, leblos wirkenden Augen. Miss Magpie, die Sucherin. Knirschend presste ich meine Zähne aufeinander. Meine ehemalige Klassenlehrerin. Diese widerliche Frau, die mich beobachtet und entführt hatte. Solchen Leuten durfte man keine freie Bahn lassen. Düstere Genugtuung erfüllte mich, als ich daran dachte, dass diese abartige Person schon lange tot war.

Energisch schnappte ich mir die letzte Luftmatratze und wollte gerade anfangen, sie aufzublasen, als ich plötzlich stockte. Moment. War Miss Magpie überhaupt tot?

Ein unangenehmer Schauer schlich quälend langsam meinen Rücken herunter. Ich hatte mich nie versichert, dass auch sie damals gestorben war. Generell hatte ich keinen Gedanken daran verschwendet, wie viele Leute von Ambrosia noch übrig waren. Denn es waren damals ganz bestimmt nicht alle Ambrosia-Zugehörigen in den Laboren gewesen. Und nicht alle Bereiche des Gebäudes waren gleich stark beschädigt. Es gab sicher genug Leute, die meinen Ausbruch überlebt hatten. Waren sie noch immer da draußen? Natürlich wusste ich, dass es zumindest noch vereinzelte Ambrosia-Mitglieder gab. Immerhin hatten sie die Steckbriefe gefährlicher Mutanten an die Jäger weitergegeben. Aber wie viele von ihnen gab es wirklich noch? Noch nie hatte ich so sehr gehofft, wie jetzt gerade, dass ich einen Menschen in dem Chaos von damals getötet hatte. Miss Magpie musste einfach gestorben sein. Sie musste! Ich wollte mir gar nicht erst vorstellen, was wäre, wenn sie tatsächlich noch irgendwo da draußen wäre.

Ein leises Fluchen von meinem Bruder riss mich aus meinen verzweifelten Gedanken. Schnell bemerkte ich auch, weshalb er so fluchte. In den Nachrichten wurde gerade von uns gesprochen. Zu sehen waren Aufnahmen der Westminster Bridge aus der Luft. Es mussten die Aufnahmen des Fernsehteams aus dem Helikopter sein, erinnerte ich mich. Ich sah mich selbst wie ich mit Lucius und Varya mitten auf der Brückestand, während Menschen panisch davon eilten. Jetzt sah ich auch Siebenundvierzig, die seelenruhig auf uns zuging und vor uns stehenblieb. Auf den Aufnahmen konnte man sehen, dass sie sprach, doch hören tat man nichts.

„Heute Nachmittag wurde die Polizei zur Westminster Bridge gerufen, da eine Gruppe von Mutationen aus dem Palace of Westminster floh. Wie sie überhaupt dort hineingekommen sind, ist nicht bekannt.", sprach eine Reporterin, die ich auf Mitte dreißig schätzte. Sie war recht groß und hatte ihr feuerrotes, lockiges Haar locker zurückgebunden. Ernst schaute sie in die Kamera, während sie das Geschehen vom Helikopter aus beobachtete.

Freya Winter - MutantWhere stories live. Discover now