Kapitel 81

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Mein Hals schmerzte. Das war das Erste, das ich wieder mitbekam. Danach bemerkte ich den harten Untergrund, wie auch dass ich gefesselt war. Dieses mal mehr als bisher. Zusätzlich zu den Hand- und Fußgelenkfesseln, waren nun auch welche um meine Bauch und meinen Hals befestigt. Wie durch Watte vernahm ich schließlich zwei Stimmen. „Ist sie richtig festgeschnallt?", fragte Clausen.

„Ja, ist sie.", antwortete Lucius.

Kurzes Schweigen. „Sicher? Wir sollten nur sicher gehen, bevor noch jemandem etwas passiert.", sagte Clausen dann. Irgendetwas klapperte. Es klang nach Metall. „Nimmst du das bitte kurz, Lucius?" Da mein Bruder nicht antwortet, ging ich davon aus, dasser nickte. Unter allen Anstrengungen versuchte ich meine Augen zu öffnen. Zuerst gelang mir das eher nicht sonderlich gut. Meine Augen öffneten sich einen Spalt breit, doch kurz darauf fielen sie mir wieder zu. Doch ich gab nicht auf. Ein paar mal fielen mir die Augen noch zu, ehe ich sie komplett aufreißen konnte.

„Sie ist wach!", rief Clausen daraufhin und wich einen Schritt zurück. Sogleich sammelte ich meine Kräfte und begann an meinen Fesseln zu reißen, was sich als schwieriger gestaltete, als gedacht. Das bemerkte auch Clausen und er trat wieder einen Schritt vor. Nicht gewillt als Experiment zu leben und zu sterben, gab ich nicht auf. Weiterhin wehrte ich mich mit dem Ziel meine Fesseln zu sprengen. Jetzt, da Clausen sich sicher war, das ich ihm nicht tun konnte, wurde er wieder selbstbewusster. „Gib auf, Freya.", sagte er und klang dabei herablassend. „Außerdem kannst du nach deiner Aktion vorhin vergessen, jemals mit uns zu kooperieren." Als ob ich das wollte. Außerdem sprach er nun zu mir, als sei ich bloß ein ungehorsames Kind. Als Antwort fletschte ich meine Zähne und knurrte. Clausen lachte bloß. Aus zornfunkelnden Augen sah ich ihn an und wünschte mir, sein Gesicht zu sehen, wenn ich ohne Fesseln vor ihm stehen würde. Dann war der Doktor nämlich nicht mehr so selbstsicher. Lucius, der neben ihm stand, sagte nicht. Er konnte mich noch nicht einmal ansehen.

Begeistert klatschte Clausen in seine Hände. „Na dann! Fangen wir an! Dieser Tag wird in die Geschichte eingehen!" Erst jetzt bemerkte ich den Rolltisch, der neben mir stand. Auf diesem war bereits die Spritze vorbereitet worden. Nach dieser griff nun Clausen. Mein Herzschlag beschleunigte sich. Vorsichtig und mit einem Lächeln auf den Lippen nahm er sie und hielt sie stolz in seinen Händen. „Das hier ist die neue und bearbeitete Version der Mischung, die bereits zuvor die gewünschte Wirkung erzielt hat. Demnach steht fest, dass sie auch dieses mal ihre Wirkung nicht verfehlen wird." Mit der Spritze in der Hand drehte Clausen sich zu Lucius um, der bisher eher im Hintergrund gewesen war. Feierlich überreichte Clausen Lucius die Spritze. „Hier. Dir gebührt die Ehre, das Leben deiner Schwesterzu verbessern.", sagte Clausen. Mich traf es wie ein Schlag. Das machte Clausen absichtlich! Er wusste, wie sehr es mir widerstrebte, ein Experiment zu werden und nun übergab er diese Aufgabe auch noch meinem Bruder. Clausen wollte mich mit allen Mitteln brechen.

Zögerlich nahm Lucius die Spritze entgegen. Nachdenklich strich er mit seinem Zeigefinger darüber, während er sie mit seiner linken Hand festhielt. Clausen machte Lucius Platz, indem er einen Schrittbeiseite trat. „Du musst ihr wie vorhin in den Hals stechen.", erklärte Clausen. Langsam ging Lucius auf mich zu und nahm Clausens alten Platz ein. Vernichtend funkelte ich ihn an. Lucius sah mit einer undefinierbaren Miene auf mich herab. In seiner Hand hielt er die Spritze bereit. Gleich würde er sich seinen Wunsch nach einer menschlichen Schwester erfüllen und meine Verachtung für ihn würde ins Unermessliche steigen. Er presste seine Lippen so fest aufeinander, dass sie nur noch eine schmale Linie bildeten. Die Spritze in seiner Hand umfasste er fester. Langsam bewegte sie sich auf meinen Hals zu. Angespannt versuchte ich mich von ihr wegzudrehen, was natürlich unmöglich war. Erneut versuchte ich, die Fesseln zu zerbrechen. Ich wandte mich auf der Liege. Kurz bevor die Nadel der Spritze meinen Hals erreichen konnte, riss Lucius sie ruckartig zurück. Aufgewühlt legte er sie zurück auf den Rolltisch. „Ich kann das nicht.", sagte er. Frustriert raufte er sich seine Haare und wich vor mir zurück.

„Feigling!", zischte ich. Obwohl Lucius den Wunsch hegte, mich zurück in einen Menschen zu verwandeln und mich deshalb sogar verraten hatte, konnte er es jetzt nicht einmal selber tun und überließ das dem Doktor.

„Na, na. Wir wollen doch jetzt nicht gemein werden, meine Liebe.", meinte Clausen und legte Lucius seine Hand tröstend auf die Schulter. „Es ist nicht schlimm, Lucius. Ich kann dir nicht verübeln, dass es dir schwer fällt, das zu tun." An Lucius' Stelle nahm Doktor Clausen nun die Spritze mit der abstoßenden Substanz. Gelassen führte er diese zu meinem Hals. Ich spannte mich an. Alles in mir schrie danach, wegzulaufen, doch das war mir nicht vergönnt. Mein Herz raste. Ich hielt meinen Atem an.

Die Spritze kam mir immer näher, als plötzlich ein lautes „Nein!" ertönte. Überrascht ließ Clausen seine Hand sinken und drehte sich zu Lucius um. Dieser hatte sich mit seiner vollen Größe hinter Clausen aufgebaut und sah auf ihn herab. Seine Hände waren zu Fäusten geballt und auch seine Mimik verriet seine Entschlossenheit.

Clausen runzelte seine Stirn. „Was ist?", wollte er wissen. Ungeduldig musterte Clausen meinen Bruder.

„Ich sagte 'nein'.", wiederholte mein Bruder. Seine Stimme klang vollkommen ernst und sein Blick war unbeugsam. „Sie werden Freya dieses Zeug nicht spritzen."

Lachend schüttelte Clausen seinen Kopf. „Was denkst du, tust du da? Erst entwickeln wir gemeinsam dieses Serum und nun entscheidest du dich plötzlich, dass du das nicht möchtest?" Ein grausames Grinsen erschien auf Clausens Gesicht. „Ist dir die Meinung deiner Schwester auf einmal doch nicht so egal? Und glaubst du, nur weil du auf sie nun Rücksicht nimmst, werde ich mein Vorhaben abbrechen?" Erneut schüttelte der Doktor seinen Kopf. „Dann liegst du falsch. Ich arbeite schon seit langer Zeit auf diesen Tag hin. Es ist zu spät, um mich davon abzuhalten. Willst du deinen Wunsch nach den alten Zeiten wirklich so einfach aufgeben?"

Lucius Hand schnellte nach vorne und er packte Clausens Handgelenk. Fest drückte er zu, so dass dem Doktor die Spritze aus der Hand fiel. Jedoch zerbrach sie nicht. „Natürlich möchte ich, dass Freya wieder ein Mensch ist.", sagte Lucius, während er Clausen verbittert betrachtete. „Natürlich möchte ich, dass alles wieder wird, wie damals. Aber ich kann nicht über Freyas Schicksal bestimmen. Und wenn ich das hier durchziehen würde, wäre ich nicht besser als die Menschen, die ihr das angetan haben." Clausen blieb ruhig. „Was hat dich dazu gebracht, deine Meinung zu ändern?", wollte er interessiert wissen.

Lucius' Blick flackerte für den Bruchteil einer Sekunde zu mir. „Ich habe ihre Gründe gehört.", antwortete er. „Auch, wenn das bedeutet, dass meine Schwester nie wieder ein Mensch sein wird, werde ich ihr dieses Serum nicht verabreichen." Ein Hauch von Traurigkeit war ihm anzumerken. Lucius wirkte, als wäre es ein großer Verlust für ihn, mir das Serum vorzuenthalten.

Als Clausen sprach, klang seine Stimme sanft. „Das ist okay. Du musst ihr das Serum nicht verabreichen." Als sich Lucius' Griff leicht lockerte, riss Clausen sich los, schnellte vor, packte die Spritzeund rammte sie mir in den Hals. Ein schriller Schmerzensschrei entfloh mir, während ich spürte, wie das Serum in mein Blut gelangte und durch meinen gesamten Körper floss. Meine Adern brannten wie Feuer. Bei dem einen Schrei blieb es nicht. Mein Körper verkrampfte sich, während meine Hände sich zu Fäusten ballten und ich meinen Kopf auf die Liege presste. Zum zweiten mal an diesem Tag streckte die Finsternis ihre langen Finger nach mir aus und schloss mir die Augen.

Freya Winter - MutantWhere stories live. Discover now