Kapitel 91.4

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Angst machte sich in mir breit. War Lucius etwas passiert? Jeder meiner Muskeln spannte sich an. Ich war bereit einzugreifen. Schnelle Schritte waren zu hören. Sie kamen genau in unsere Richtung. Erneut fluchte Lucius leise. Dann rief er: „Er ist allein!" Beinahe zeitgleich wurde die Wohnzimmertür aufgerissen. Keuchend stand ein großer, schlaksiger Mann im Türrahmen, den mein Bruder gerade noch am Kragen packen konnte und somit zurückhielt. Er war im selben Alter wie Enya. Was auffiel, war seine Kleidung. Er trug eine schlichte schwarze Hose und ein weißes Hemd mit einer grün-weiß gestreiften Krawatte. Seine blauen Augen, die hinter rechteckigen Gläsern lagen, erblickten zuerst mich. Verblüffung machte sich auf seinem Gesicht breit. „Oh, wow!", machte der fremde Mann, der Bill Grayson sein musste.

Neugierig rückte er seine Brille zurecht und schien nicht einmal zu bemerken, dass mein Bruder ihn am Kragen seines Hemdes hinten gepackt hielt. Bill kratzte sich einmal kurz an seiner stoppeligen braunen Wange, ohne die Augen von mir zu nehmen. Eingehend musterte er mich: die Schuppen, die Augen. „Schlange, nicht wahr?", fragte er.

Skeptisch zog ich eine meiner Augenbrauen hoch. „Das ist jetzt nicht wirklich schwer zu erraten.", meinte ich kühl. Ein leichter Rotschimmerlegte sich auf Bills Wangen.

„Hm. Das stimmt wohl.", erwiderte er und als nächstes landete seine Aufmerksamkeit auf Samuel. Erneut sah er verblüfft aus. „Oh, ha!", machte er. Samuel knurrte. Doch Bill zuckte nicht zurück. Jeder andere, der sich an seiner Stelle befunden hätte, hätte es vermutlich getan. „Ein Hai, richtig? Sehr interessant. Es freut mich, euch beide kennenzulernen!" Erst jetzt schien er auch zu bemerken, dass sich im Wohnzimmer nicht nur wir zwei Mutanten aufhielten. Varya nickte er kurz zu. Während der ganzen Zeit ließ ich ihn nicht einmal aus den Augen. Jede Bewegung, die er machte, registrierte und beobachtete ich. Wenn er zu einer Waffe greifen würde, würde mir das nicht entgehen.

Und dann erblickte Bill Enya. Die Gesichtszüge entgleisten ihm. „Enya!Was ist passiert?", rief er entsetzt. Er wollte auf sie zugehen, doch wurde wieder daran erinnert, dass er nach wie vor von Lucius zurückgehalten wurde. Verärgert blickte Bill nach hinten. „Was soll das? Ich bin hier, um zu helfen!" Danach sah er einmal in die Runde. „Ich gehe einfach mal davon aus, dass ihr nicht hier seid,um Enya etwas anzutun, sondern ihre Freunde seid." Forschend musterte er jeden von uns.

Langsam schien Enya wieder ihre Fassung zu gewinnen. Obwohl sie noch immer kränklich bleich war und kraftlos wirkte. Sie holte einmal tief Luft und setzte sich wieder aufrechter hin. Mir fiel auf, dass ihre Hände zitterten.

„Geht es dir wieder besser?", wollte Bill wissen, der Enya besorgt musterte. Sie nickte bloß einmal knapp. „Was soll das eigentlich hier? Du hast mich doch in der Nacht angerufen und mich gebeten, diese Geschwister aus der Stadt zu bringen. Wieso also hat dieser Junge versucht, mir weiszumachen, dass du hier nicht wohnst?" Mit seinem Daumen deutete er auf Lucius, der nach wie vor hinter ihm stand. „Und wieso sehen diese beiden Mutanten mich so an, als würden sie mich jeden Augenblick angreifen wollen?" Fragend sah er zwischen Samuel und mir hin und her.

„Ganz einfach: Weil du für MaWiCon arbeitest.", verkündete Lucius kühl. Abwertend lagen seine Augen auf dem schlaksigen Mann. Dieser sah merklich verwirrt aus. Ein paar Mal blinzelte er, ehe sich seine Lippen teilten. „MaWiCon? Was hat das damit zu tun? Wir verkaufen teure Markenklamotten. Ja, und?" Doch auf einmal schien er zu begreifen. Seine Augen weiteten sich und sein Mund formte einperfektes „O". Schlagartig verdüsterte sich Bills Miene und erspannte sich merklich an. „Du bist ein Jäger.", sagte er zu Lucius. Seine Stimme war leise und ein abwertender Unterton schwang in ihr mit. Doch nun schien die Verwirrung wieder die Oberhand zu gewinnen. „Bist du Schuld daran, dass es Enya nicht so gut geht?" Allerdings schüttelte Bill sogleich wieder den Kopf. „Nein. Sonst hätten die Mutanten dich direkt angegriffen. Aber sie sehen nicht dich als ihren Feind. Sondern mich.", stellte er fest.

Es erschien mir suspekt, dass Bill meinen Bruder mit deutlicher Abwertung in der Stimme einen Jäger genannt hatte. Half er ihnen nicht bei ihrer Tätigkeit, indem er für MaWiCon arbeitete?

Erneut rückte Bill seine Brille zurecht, obwohl diese gar nicht schief saß. „Du hast ihnen von MaWiCons eigentlicher Betätigung erzählt. Also gehe ich davon aus, dass du mittlerweile die Seiten gewechselt hast." Jetzt klang seine Stimme Lucius gegenüber wieder ein bisschen freundlicher. „Du kannst mich loslassen. Ich habe nicht vor, deinen Freunden etwas zu tun oder sie auffliegen zu lassen." Natürlich ließ Lucius Bill nicht los. Also wandte er sich nun an Enya. Derweil hatten ihre Hände aufgehört zu zittern. Mit einem Blick, der eisiger nicht sein konnte, betrachtete sie ihren ehemaligen Klassenkameraden.

„Es stimmt, dass ich für MaWiCon arbeitete. Und es stimmt auch, dass wir die Klamotten nur verkaufen, um den Schein zu wahren. Wir entwickeln Technologien, die wir den Jägern überlassen, die mit deren Hilfe anschließend Mutanten aufspüren und töten.", sagte Bill ruhig. „Aber es stimmt auch, dass ich Mutanten helfe. Das war keine Lüge, Enya. Ich weiß, dass ihr mir das wahrscheinlich nicht glaubt. Und ich habe auch nichts, um euch das zu beweisen. Nur mein Wort."

„Da hast du recht.", knurrte Samuel. „Du hast nichts, um uns zu beweisen, dass du uns tatsächlich hilfst." Es war unfassbar, wie bedrohlich er jetzt aussah. Wäre ich ein Mensch, hätte ich ihn spätestens jetzt ein Monster genannt. Aber bei mir selbst war es vermutlich nicht besser.

„Wir können ihn nicht einfach wieder gehen lassen.", meinte Lucius ernst. „Er weiß zu viel. Er könnte uns verraten." Bei diesen Worten schlichen sich dunkle Schatten auf Bills Gesicht. Er wusste, dass ihm nichts anderes mehr übrig blieb, als uns von seinen guten Absichten zu überzeugen. Ansonsten wusste ich auch nicht, was wir mit ihm tun sollten. Einsperren? Ob es hier genug Platz für so etwas gab, wusste ich nicht. Aber wenn er hier eingesperrt werden würde, müsste man ihn auch mit Nahrung versorgen. Und Enya war hier die Einzige, die Geld verdiente. Konnte sie es sich leisten, noch jemanden auf Dauer zu ernähren?

Dennoch war diese Option zum Scheitern verurteilt. Bill war der Sohn des Chefs von MaWiCon. Sein Vater würde alle Hebel in Bewegung setzen und nach ihm suchen. Und dann hätten wir ein weitaus größeres Problem, als Bill, von dem wir nicht einmal mit Sicherheit sagen konnten, ob er uns Schlechtes wollte.

„Bring ihn her.", forderte Samuel meinen Bruder auf. Lucius stieß Bill vorwärts, ließ ihn aber kein einziges Mal los. Nicht gerade sanft drückte er den jungen Mann in das Sofa, gegenüber von Samuel und Enya. Varya und ich standen links und rechts neben Bill; bereit einzugreifen.

„Wieso arbeitest du bei MaWiCon?", fragte Samuel streng.

„Wieso ich da arbeite? Wegen meines Vaters. Er ist der Chef. Also hat er mir keine andere Wahl gelassen. Immerhin soll ich die Firma eines Tages übernehmen.", antwortete Bill, der sich scheinbar damit abgefunden hatte, jetzt verhört zu werden. Als er sah, dass Samuel sich mit seiner Antwort nicht zufrieden gab, fuhr er fort: „Außerdem wollte ich schon immer etwas im Bereich der Technik machen. Aber na ja, die anderen Bereiche in der Technik lohnen sich einfach nicht. Der einzige technische Bereich, der wirklich gefördert und vorangetrieben wird, ist der, der sich mit Mutanten beschäftigt.Also habe ich bei MaWiCon eher die Chance, etwas zu erreichen."

„Indem du bei der Verfolgung und Ermordung von Mutanten hilfst?", spottete ich angewidert. Immerhin hatte Bill den Anstand, beschämt auszusehen.

„Ob ihr es mir glaubt oder nicht. Ich will Mutanten helfen. Und ich kann das am Besten bei MaWiCon.", sagte Bill. „Ich weiß, dass das unglaubwürdig klingt. Aber durch MaWiCon habe ich Zugang zu unzähligen hilfreichen Geräten und habe mehr Handlungsmöglichkeiten, solange ich natürlich nicht auffliege. -Die Polizisten, zum Beispiel, die gerade alle Ausgänge der Stadt kontrollieren, würden bei mir weniger intensive Kontrollen durchführen, wenn ich ihnen meinen Ausweis zeige. Ich komme leichter aus der Stadt raus. Und im Notfall würden mir die Geräte helfen, die unsere Firma herstellt." Bittend sah er in die Runde. Hoffte, dass wir ihm glaubten. Hoffte, auf weniger misstrauische Gesichter zu stoßen. Keiner von uns verzog seine Miene.

„Wie gesagt, werde ich eines Tages die Firma übernehmen. Dann kann ich entscheiden, wie es mit ihr weitergeht. Und ich werde sie in eine Richtung lenken, die von der Jagd nach Mutanten wegführt. Das kann ich am Besten von innen und nicht von außen.", sagte Bill mit ernstem Gesicht. Er wirkte entschlossen und aufrichtig. Aber auf diese Aufrichtigkeit wollte ich nicht zu schnell vertrauen.



Freya Winter - MutantWhere stories live. Discover now