Kapitel 96.2

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Aber seine Worte ließen mich nicht mehr los. Ja, ich musste abwägen. Aber zu aller erst musste ich mir Gedanken darüber machen, was Lucius bereute. Einfach war das nicht. Zwar wusste ich, dass er bereute, aber nicht genau, was. Ganz am Anfang, als es gerade erst passiert war, war mir klar gewesen, dass er hauptsächlich bereute, dass Clausen ihn angelogen und benutzt hatte. Dass Lucius nicht dazu in der Lage gewesen war, mich wieder zu einem Menschen zu machen. Aber jetzt? Wie sah es jetzt aus?

Nachdem wir das Labor hinter uns gelassen hatten, waren wir bei Samuel und Enya untergekommen, ehe sie uns mit Bills Hilfe aus London schleusen konnten. Kurz darauf war auch schon das mit den Elitesoldaten passiert. Hatte sich in dieser Zeit irgendetwas in meinem Bruder verändert? Hatte er endlich begriffen und verstanden? Die Wahrheit war, dass ich es nicht wusste. Dabei war die Antwort gar nicht mal so unwichtig. Denn sie könnte meine Entscheidung stark beeinflussen.

Ich war nicht dazu bereit, schon wieder jemanden zu verlieren, der mir wichtig war. Definitiv nicht. Das war mir klar. Aber wie konnte ich meinem Bruder noch vertrauen? Wie konnte ich es noch in seiner Nähe aushalten? Er wusste, was Ambrosia mir und all den anderen Kindern angetan hatte. Und dennoch hatte er sich dazu entschieden, es gemeinsam mit Doktor Clausen Ambrosia gleich zu tun.

»Du musst das nicht heute entscheiden.«, sagte Kieran.

»Aber wann dann?«, erwiderte ich. »Wir können nicht wissen, für wie lange wir hier sicher sein werden. Schon gar nicht, wenn es diese Elitejäger auf uns abgesehen haben, wovon ich doch sehr stark ausgehe.« Seufzend ließ ich mich auf einen der Küchenstühle sinken. »Und was sollen wir überhaupt tun, wenn sie uns wirklich finden sollten?«

Wieso fragte ich das überhaupt? Kierans Antwort würde ganz sicher lauten, dass wir sie töten sollten. Damit hatte er schließlich keine Probleme. Und vermutlich läge er sogar noch richtig. Ansonsten hätten wir niemals unsere Ruhe. Nur ihr Tod würde uns helfen, so sehr mir das auch missfiel.

Ich wusste auch, was Lucius davon hielt. Doch wenn ich so an Kierans Geschichte gestern dachte, waren auch die Elitesoldaten nur Marionetten der Regierung. Sie hatten sich selbst verloren. Wie viel Schuld konnte ich ihnen also zuschieben?

Bei den Menschen war es anders. Sie wussten, was sie taten. Sie wollten das, was sie taten. Sie konnten frei entscheiden. Aber konnten das auch die Elitesoldaten?

»Ich weiß es nicht.« Kierans unentschlossene Antwort überraschte und schockierte mich zugleich. Mit zusammengezogenen Augenbrauen blickte ich zu ihm. Es war erschreckend, wie verbittert und verloren er wirkte. So kannte ich ihn überhaupt nicht. Vor mir saß auf einmal ein anderer Kieran, als der, den ich kennengelernt hatte.

In seinen dunklen Augen fand ich etwas, das ich zwar nicht benennen konnte, mich aber tief im Inneren berührte. Da war ein Schmerz, den er sonst nicht zeigte. Er wirkte beinahe verletzlich. Und das machte mir Angst.

»Ist alles okay?«, fragte ich vorsichtig. Es war seltsam. Nie hatte Kieran menschlicher gewirkt als in ebendiesem Moment. Das war auf eine verzerrte Weise beunruhigend, da er sich doch immer im Griff hatte. Aber wir alle hatten wohl unser quälendes Päckchen zu tragen. Ganz besonders Kieran.

»War unter den Elitesoldaten ein Mutant mit Fledermausflügeln?«, wollte Kieran wissen.

Irritiert nickte ich. »Ja.«, sagte ich. Und er war wirklich unheimlich gewesen. Obwohl er mir auch irgendwie Leid tat.

»Hat er dir seine Nummer genannt?«, bohrte mein Gegenüber weiter.

»Er sagte, er sei Zweihunderteins.«, antwortete ich. »Warum?« Kannten die beiden sich etwa? Es war schon erstaunlich, wie viel Kieran gestern über die Entstehung der Elitesoldaten gewusst hatte. Irgendwo musste es doch einen Zusammenhang geben.

Freya Winter - MutantWo Geschichten leben. Entdecke jetzt