Kapitel 102.4

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»Wieso hast du dich unserer Gruppe angeschlossen?« Die Frage war raus, ehe ich mich daran hindern konnte. »Ich weiß, dass du ein Einzelgänger bist. Du lässt dich nicht gerne einschränken und in einer Gruppe passiert das nun einmal zwangsläufig, weil man aufeinander achten muss.« Erst dachte ich, er würde mir einfach nicht antworten.

Als er es dann doch tat, war ich überrascht: »Die Severos waren nur eine Übergangslösung.«, sagte er. »Dort habe ich gewartet, bis die Zeit reif war.«

»Reif wofür?« Dann fiel mir auf, dass er »Übergangslösung« gesagt hatte. Das klang beinahe so, als hätte er es sich ausgesucht, bei den Severos zu arbeiten. Das wollte so gar nicht zu Kieran passen, der sich ungern einschränken ließ. Da steckte mehr hinter.

»Für Veränderungen.«, erwiderte er. »Als ihr geflohen seid, erschien mir das wie der richtige Zeitpunkt.« Anhand seiner Miene konnte ich erkennen, dass für ihn alles gesagt war. Er war nicht daran interessiert, mehr von sich preiszugeben. Waren wir für ihn wirklich nur ein Mittel zum Zweck gewesen? Oder schätzte ich das falsch ein?

Jedenfalls konnte ich nicht leugnen, dass ich ihn mochte. Wenn ich auch nicht einschätzen konnte, wie er zu uns stand. Bisher hatte er uns nicht einmal im Stich gelassen. Ich wusste, dass er ganz anders aufgewachsen war, als ich. Im Gegensatz zu mir hatte er seine Kindheit komplett im Labor verbracht. Er hatte nie eine Familie gehabt, keine Freunde. Wie wirkte sich so etwas auf ein Kind aus? Konnte Kieran überhaupt so etwas wie Freundschaft oder Loyalität empfinden?

Ich fühlte mich schlecht, weil ich an ihm zweifelte, wobei er doch einer der wenigen war, denen ich komplett vertraute. Mein Leben würde ich in seine Hände legen. Und doch war er so distanziert.

Wer wäre Kieran heute, wäre er nicht so früh entführt worden oder gar ein Menschgeblieben?

»Wir müssen mehr Leute erreichen.«, sagte Samuel am nächsten Morgen, als wir mit ihm am Frühstückstisch saßen. »Die Flugblätter waren eine wirklich gute Idee, aber auf ihnen dürfen wir uns nicht ausruhen. Außerdem reichen sie manchen Menschen nicht. Sie brauchen etwas Handfesteres. Sie benötigen einen Einblick in unser Leben, damit sie nach und nach verstehen, dass wir uns nicht großartig von ihnen unterscheiden. Natürlich können wir nicht einfach wahllos alle hier filmen. Ich möchte niemanden von euch zu etwas zwingen. Es birgt ein gewisses Risiko, euer Gesicht der Öffentlichkeit zu zeigen. Sollten all unsere Bemühungen letztlich nicht genug sein und sollten wir untertauchen müssen, können diejenigen von euch, die menschlich genug aussehen, als Menschen leben. Das geht jedoch nicht, sollten die Menschen euer Gesicht kennen und somit wissen, dass ihr Mutanten seid.«

»Also, ich finde die Idee gut.«, sagte Jade, die gerade ihr Frühstücksei pellte. »Allerdings finde ich, dass wir jemanden wählen sollten, der nicht menschlich aussieht. Sodass niemand sagen kann, dass wir lügen und es sich um einen Menschen handelt. Schließlich sollen sie die Wahrheit sehen. Auch, wenn sie ihnen nicht gefällt.«

»Die Hexe hat uns mit Papageien verglichen.«, knurrte Elliot und sofort wusste jeder, von wem er sprach. »Die Menschen würden einfach glauben, wir würden sie nachahmen. Wer wird uns zuhören, wenn wir vermeintliche Nachahmer sind?«

»Es gibt solche und solche Menschen.«, warf Audra nun ein. Mittlerweile hatte sie sich schon öfters mit in die Gespräche eingebracht. »Es wird immer jemanden geben, der das, was er nicht wahrhaben will, verleugnet und dafür ist ihm kein Argument – möge es noch so abwegig sein – zu schade. Aber es gibt auch Menschen, die zuhören und nachdenken. Menschen, die sich der Wahrheit stellen und auch welche, denen sie schlichtweg egal ist. Wir müssen einfach unser Bestes geben. Der Rest liegt nicht in unserer Hand.«

»Das gefällt mir nicht.«, meinte Elliot verbittert. »Einfach nur hoffen und abwarten. Da hängen unsere Leben dran, verdammt!«

»Wenn du eine bessere Idee hast, bitte.«, meinte Siebenundvierzig und Elliot grummelte unverständlich. »Dachte ich es mir doch.« Siebenundvierzig löffelte ihr Müsli. »Ich bin der Meinung, dass, wenn wir diese Videos wirklich drehen sollten, trotzdem noch auf die Straße gehen und die Leute persönlich überzeugen sollten. Wir dürfen uns nicht in die Sicherheit des Internets verkriechen. Wir müssen auch außerhalb präsent bleiben.«

Freya Winter - MutantWo Geschichten leben. Entdecke jetzt