Kapitel 68

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Kapitel 68

Begeistert legte Lucius seine Hand in den Schnee, der sich um ihn herum gebildet hatte und hinterließ einen Abdruck, als er sie wieder zurück zog. Anschließend machte er ein paar Atemwölkchen. Es sah schon insgesamt ziemlich lustig aus. „Lucius Winter mag Schnee.", sagte ich grinsend. Lucius ließ sich davon nicht stören. „Der Witz ist alt, Freya. Den hast du schon einmal gemacht.", sagte Lucius, der ebenfalls grinste. „Außerdem waren deine Witze nie gut." Noch ehe ich etwas dazu sagen konnte, hatte er mich mit einer handvoll Schnee abgeworfen und lachte. Ich seufzte. Ich konnte ihm einfach nicht böse sein. Obwohl ich wirklich allen Grund dazu hätte. So wirklich sagen, weshalb ich ihm so schnell verziehen hatte, konnte ich nicht. Vielleicht weil er mein Bruder war. Er war die einzige Familie, die ich momentan hatte. Und ich hatte ihn vermisst.

„Worüber denkst du nach?", wollte Lucius wissen und riss mich somit aus meinen Gedanken. In seinen Händen formte er Schneebälle, die er neben sich auf den Boden legte.

„Ach, nichts.", sagte ich und machte eine wegwerfende Handbewegung, ehe ich mich ein wenig aufrechter hinsetzte. Lucius hob bloß eine Augenbraue als Zeichen, dass er mir nicht ganz glaubte. Die Kälte verschwand wieder und es hörte auf zu schneien. Lucius quittierte das bloß mit einem leisen Seufzen. Dann widmete er sich seinen Schneebällen und beobachtete, wie diese langsam ein wenig in der Sonne funkelte.

„Wir sollten zurück zu den anderen.", meinte er schwermütig. „Nicht, dass sie sich noch Sorgen machen." Er nahm die langsam schmelzenden Schneebälle und stand auf. Abwartend sah Lucius auf mich herab. Ich konnte ihm ansehen, dass er eigentlich noch ein wenig länger mit mir allein bleiben wollte, aber er hatte recht. Die anderen warteten auf uns. Außerdem wurde ich das Gefühl nicht los, dass er seine Schneebälle noch benutzen wollte, ehe sie komplett geschmolzen waren. Also nickte ich und erhob mich. „Gut. Lass uns zurück.", stimmte ich meinem Bruder zu. „Dann können wir auch umso schneller los fahren und Audra befreien."

Gemeinsam ließen wir den See hinter uns und kehrten zu den anderen zurück. „Da sind sie!", rief James, der uns als erstes kommen sah. Sofort lagen alle Blicke auf uns. Kaum merklich machte Lucius sich bereit. Er visierte James an und bevor dieser etwas bemerkte, klebte ihm auch schon nasser Schnee im Gesicht. „Was ist das denn?!", rief James angewidert aus, als er sich mit seinem Ärmel über das Gesicht wischte. Er setzte an weiter zu schimpfen, als er irritiert die helle Masse an seinem Ärmel anstarrte. „Schnee?", fragte James. „Ist das dein Ernst?" Lucius grinste, während Mikéle und Jo James laut auslachten. Die beiden waren die nächsten, die Schnee ins Gesicht bekamen und ihr Lachen erstarb. Stattdessen starrten sie Lucius böse an, der sich schon seinem nächsten Opfer zugewandt hatte. Und das war die schlechteste Wahl, die Lucius hatte treffen können. Ich erstarrte, als der nasse Schnee in dem Gesicht des schwarzhaarigen Mutanten klatschte, dessen Miene sich schlagartig verdunkelte. Ein Knurren erklang aus den Tiefen seiner Kehle und unwillkürlich spannte ich meine Muskeln an. Bereit Lucius vor dem Wutanfall zu beschützen. Auch die Jäger schienen zu bemerken, dass Lucius etwas furchtbar Dummes getan hatte. Liam erhob sich bedrohlich ruhig von seinem Platz. Seine rubinroten Augen ließen meinen Bruder nicht eine Sekunde aus dem Blick. Feuer und Wasser, beziehungsweise Eis, vertrugen sich nicht. Dass Liam ausgerechnet mit dem Feuer verbunden war, konnte Lucius nicht ahnen. Dennoch hätte gerade ein Jäger wie er wissen sollen, dass er einen Mutanten lieber nicht verärgern sollte. Brenda war die einzige der Jäger, die wohl die Gefahr erkannte, die jetzt von Liam ausging. Denn sie trat willkürlich und alarmiert einige Schritte zurück und behielt Liam im Auge. Sie analysierte jede seiner Bewegungen. Bereit einzugreifen oder sich in Sicherheit zu bringen. Es war ein schlechter Augenblick, gerade jetzt daran zu denken, dass sie vielleicht genau so wie jetzt reagiert haben könnte, als damals ihr mutierter Bruder vor ihrer Haustür gestanden hatte. Sie hätte damals lieber fliehen sollen, als zur Waffe zu greifen. Vielleicht hätte sich dann alles für sie geklärt und wäre gut ausgegangen. Schnell fokussierte ich mich wieder auf Liam, dessen glühende Augen nun zu leuchten begannen. Sie wirkten als würden sie in Flammen stehen. Wie eigentlich immer, wenn er wütend war.

Während James Liam bloß fragend ansah, runzelte Lucius die Stirn und ich konnte sehen wie er sich anspannte. Er bereitete sich auf einen Angriff vor. Immerhin schien er den Fehler zu bemerken, den er gemacht hatte. Auch wenn er nicht wusste, dass Liam vielleicht nicht so extrem reagieren würde, wäre Liam kein mit dem Feuer verbundener Mutant.

Alle beobachteten Liam, dessen Schritte ruhig, aber bestimmt waren und nichts von seinem inneren Zorn verrieten. Noch nicht. Lucius ließ Liam nicht eine Sekunde aus den Augen. Liams Miene blieb unverändert. Als er bloß noch etwa einen Meter von meinem Bruder entfernt war spürte ich die Hitze, die sich in seinen Händen sammelte. Ich hoffte, Liam würde von selbst wieder ruhiger werden. Auch wenn ich wusste, dass das wohl kaum der Fall sein würde. Anstatt zu lernen sich selbst zu kontrollieren, war es über die Jahre immer leichter geworden Liam aus der Fassung zu bringen und ihn dazu zu bringen, mit seiner Wut zu übertreiben. Niemand wusste das besser als ich. Schließlich war ich auch nicht gerade eine Meisterin in dem, was die Selbstbeherrschung anging. Wo hätten wir das bitte auch lernen sollen? Bei Audra und Aldric im Haus oder im Garten ging das schlecht. Ebenso wie wir nicht wirklich mit unseren Fähigkeiten experimentieren konnten.

Immer mehr Hitze sammelte sich in Liams Händen. Nun mussten auch die Jäger die enorme Wärme bemerken, die von Liam ausging. Sie waren mittlerweile alle ein wenig zurück gewichen, doch niemand starrte Liam so intensiv an wie Brenda es tat. Es schien mir als konnte sie sich besser als die anderen Jäger vorstellen was gerade in Liam vorging.

Plötzlich standen Liams Fäuste in Flammen. Heißes, orange-rotes Feuer züngelte und leckte an seiner Haut, was Liam scheinbar nicht einmal bemerkte. Wie erstarrt lagen alle Augen der Jäger auf Liams brennenden Fäusten. Jo entwich ein entsetztes Keuchen, Mikéle zog seine Schwester langsam zurück, während er mit ihr zurückwich. James trat sofort einen Schritt zurück, während Brenda jegliche Farbe aus dem Gesicht gewichen war. Levi ließ sich keine Reaktion anmerken. Bloß in seinen Augen sah ich die Wachsamkeit.

Lucius wirkte nach Außen hin vollkommen ruhig. Nichts wies darauf hin, dass er nervös war oder Angst hatte. In diesem Moment verstand ich zum aller ersten mal wirklich, weshalb die anderen Jäger ihn als ihren Anführer ansahen. Er behielt in gefährlichen Situationen einen klaren Kopf und ließ sich nichts anmerken. Das schien auch die anderen Jäger sichtlich zu beruhigen. Sie vertrauten Lucius. Würde er der Panik verfallen, würden es die anderen ebenfalls. Und wenn die anderen sich so wie jetzt fürchteten, so konnten sie dennoch auf meinen Bruder zählen.

Die Hitze, die von Liams Händen ausging tat mir überhaupt nicht gut. Die Hitze, die er normalerweise ausstrahlte war für mich in Ordnung. Da er es nicht absichtlich tat. Aber wenn er es tat, so machte es mir ganz schön zu schaffen. Genauso war es anders herum für Liam.

Mit Entsetzen stellte ich fest, dass Lucius überhaupt nichts hatte um sich zu verteidigen. Er war Liam hoffnungslos ausgeliefert. Und obwohl er das wusste bewahrte er seine Fassung. Ich hatte großen Respekt vor ihm. Er war ein wahrer Meister was seine Selbstbeherrschung anging. Vielleicht würde er mir irgendwann zeigen wie das funktionierte. Das Problem war bloß, dass er mir nicht zeigen konnte, wie ich meine Fähigkeiten in Schacht hielt. Denn durch unsere Mutation waren nicht bloß unsere Fähigkeiten ein Problem. Liam war das beste Beispiel dafür, dass unsere Emotionen schwerer zu unterdrücken waren. Wir nahmen alles stärker wahr. Wie Tiere Geräusche und Gerüche.

„Ich hasse Schnee.", knurrte Liam mit einer unglaublich tiefen Stimme. Unter dem dunklen Klang seiner Stimme zuckte Brenda zusammen. Lucius hob langsam beschwichtigend seine Hände. „Ist okay. Ich habe es verstanden.", sagte er als sei er die Ruhe selbst. „Es wird nicht wieder vorkommen." Lucius trat zu meinem Entsetzen einen Schritt vor. Genau auf Liam zu. Dieser kommentierte das mit einem kehligen Knurren und einer angriffsbereiten Körperhaltung. „Beruhige dich.", sagte Lucius. Der Klang seiner Stimme war beruhigend. Er kam mir so vor, als würde Lucius mit langsamen Schritten auf ein wildes Tier zu gehen und es beschwichtigen wollen. Es störte mich, dass er es so anging als sei Liam ein wildes Tier. Doch eigentlich war er genau das. Er, Kieran und ich waren nichts anderes als wilde Tiere. Dafür hatten die Wissenschaftler gesorgt.

Freya Winter - MutantWo Geschichten leben. Entdecke jetzt