Kapitel 100

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Die Welt hörte auf zu existieren. Sie war nicht mehr. Verschlungen von der Dunkelheit. Mir war, als hörte ich auf zu atmen. Folgte Liam, wohin auch er ging, um diese Erde auf ewig zu verlassen. Ich befand mich im Nichts. Leer und schwarz. Ein unendliches Meer aus Finsternis.

Ich nahm kaum wahr, wie ich mich langsam in Bewegung setzte. Ein Fuß vor den nächsten. Nahm nicht wahr, wie ich mich vor Liams leblosen Körper auf die Knie fallen ließ. Nahm nicht wahr, wie meine zitternden Finger ihm sanft durch das dunkle Haar strichen. Nahm nicht wahr, wie ich ihn vorsichtig auf den Rücken drehte und seinen Kopf in meinem Schoß bettete.

Wie in Trance streichelte ich über sein weiches Haar. Meine Finger fühlten sich taub an. Fühlten sich tot an. Keinerlei Gefühl war mehr in ihnen. In ihnen, wie auch im Rest von mir. Ich spürte die kalten Tränen nicht, die unaufhörlich über meine Wangen flossen. Etwas in mir war zerbrochen. In unzählige scharfe Einzelteile, die mir immer und immer wieder auf mein Herz einstachen.

Der Wald um uns herum hatte sich aufgelöst. Es gab ihn nicht mehr. Da waren nur Liam und ich im Nichts. Er rührte sich nicht. Mit offenen Augen starrte er blicklos zu mir hinauf. Wunderschöne, rubinrote Augen, aus denen jedes Licht gewichen war. Sie kamen mir trotz ihrer intensiven Farbe so trüb vor.

»Liam.«, hauchte ich. Meine Stimme zitterte. Sanft strich ich mit meinem Zeigefinger über seine Wange, die nicht mehr so warm war, wie ich sie in Erinnerung hatte. Aber das war unmöglich. Liam war das Feuer. Liam brannte. Es war unmöglich, dass er kalt wurde.

»Liam.«, wiederholte ich mit einem leisen Schluchzen. »Wach auf.« Trotz meiner von Tränen verschwommenen Sicht blickte ich in seine Augen. Wartete darauf, dass er blinzelte. Wartete auf die Rückkehr der Glut. Aber da war nichts. Da war rein gar nichts. Seine Augen waren leblos. Wie auch der Rest von ihm.

Aus dem Schnitt in seiner Kehle floss noch immer Blut. Rubinrot. Instinktiv legte ich meine Hand auf seine Wunde, wollte verhindern, dass noch mehr Blut, noch mehr Leben, aus ihm trat. »Liam, bitte.«, weinte ich kaum vernehmbar. »Bitte.« Aber er nahm mich nicht wahr. Und das würde er auch nie wieder. Nie wieder würde ich dieses Grinsen auf seinen Lippen sehen. Nie wieder würde ich sein fröhliches Lachen hören. Nie wieder würde er mich in den Arm nehmen, denn er war fort. Für alle Ewigkeit.

Zurück blieb bloß sein Körper. Eine leblose Hülle. Eine leere Hülle. Eine Erinnerung daran, dass er einmal hier gewesen war. Doch auch sie würde vergehen.

All meine Hoffnungen, meine Wünsche, meine Freude hatten mit Liam diese Welt verlassen. Und mich zurückgelassen. Ein lautes Schluchzen entschlüpfte meiner Kehle, als ich meinen besten Freund fest in meine Arme schloss und sanft hin und her wiegte.

Niemals wollte ich ihn los lassen. Er war alles, war ich hatte. Alles, was mir blieb. Ohne ihn wollte ich nicht. Wir brauchten einander. Das war schon immer so gewesen. Ich brauchte ihn. Er war meine unnachgiebige Säule. Meine standhafte Stütze. Die Person, mit der ich über meine Sorgen, meine Ängste sprechen konnte. Die Person, die mich verstand.

»Verlass mich nicht.«, hauchte ich und dachte nicht einmal daran, meine Tränen zurückzuhalten. »Bitte.« Schluchzend vergrub ich mein Gesicht in seinem dunklen Haar. »Liam, bitte.« Komm zurück.

Alles andere um mich herum hatte ich ausgeblendet. Es gab nur ihn und mich. Ich bekam nichts davon mit, dass Fünfundachtzig sich auf mich stürzte. Bekam nicht mit, wie Kieran sofort handelte, indem er sie brutal gegen einen harten Baumstamm schleuderte. Bekam nicht mit, wie er die Fledermaus und Zweihunderteins von mir fern hielt.

Sie alle existieren für mich nicht. Nicht mehr. Sie waren fort.

Liams Körper hing schlaff in meinen Armen. Er war wie eine Puppe, deren Fäden durchtrennt worden waren. »Bleib.«, schluchzte ich. »Bitte, bleib.« Doch er war schon längst gegangen. Hatte mich verlassen und würde auch nicht zurückkehren. Es war vorbei.

Das Nichts wich und die Welt holte mich zurück. Zog mich erbarmungslos in die grausame Realität. Und mit dem Nichts verschwand auch meine Taubheit. Das Gefühl kehrte in meine Fingerspitzen, in meinen Körper zurück. Mit der Realität folgte der Zorn. Unbändiger Zorn. Die Trauer und der Schmerz rückten in den Hintergrund. Ich hatte nur einen Gedanken: Fünfundachtzig war schuldig. Sie hatte meinen besten Freund ermordet. Also musste sie sterben.

Vorsichtig bettete ich Liams Kopf auf dem weichen Erdboden. Langsam erhob ich mich. Meine Tränen gefroren, zersplitterten und fielen. Ohne, dass es meiner Konzentration bedurfte, verhärtete sich meine Haut. Die Temperaturen fielen drastisch. Augenblicklich konnte jeder seinen Atem betrachten. Frost kroch über den Waldboden. Verschluckte alles, kletterte an Baumstämmen hinauf, machte vor nichts Halt.

Blau blitzten meine Augen auf. Eisblau und hell. Nicht orange. In meinem Inneren brodelte es. Der Zorn machte mich stark. Machte mich mächtig. Machte mich grausam. Fünfundachtzig würde leiden. Sie hatte mir meinen besten Freund genommen. Hatte ihm sein Leben geraubt und bloß seine leere Hülle zurückgelassen.

Vielleicht war Liams Feuer auf mich übergegangen. Verwandelte sich zu Eis. Der Hass, den ich Fünfundachtzig gegenüber empfand, war unbeschreiblich. Allein an sie zu denken, ließ mich ihr den Kopf abreißen wollen. Aber sie auch noch vor mir zu sehen, diese zierliche, helle Gestalt, war unerträglich. Es entfachte ein eisiges Inferno in mir. Ich wollte sie brennen sehen. Ich wollte sie erfrieren sehen. Ich wollte sie sterben sehen. Nichts wollte ich lieber, als das.

Doch ich würde es nicht auf meine übliche Art tun. Nein. Sie würde leiden. Dafür würde ich sorgen. Meine ohnehin schon spitzen Eckzähne begannen sich zu verformen. Sie wuchsen, bogen sich nach innen. Die Zähne einer Schlange.

Fünfundachtzig schien zu begreifen, dass sich etwas verändert hatte. Das sah ich an ihrer Körperhaltung. Sie bereitete sich nicht mehr auf einen Angriff vor, sondern auf die Flucht.

Keine Sekunde ließ ich sie aus meinen blau glühenden Augen. Sie würde vor mir nicht fliehen. Sie würde nie wieder fliehen. Ich stieß ein drohendes Zischen aus. Ein Zischen, das unmenschlicher nicht sein konnte. Meine Beine fanden ganz von selbst die richtige Position. Und dann sprang ich. Schoss extrem schnell vor. Schneller konnte nur Kieran sein.

Fünfundachtzig hatte nicht einmal die Chance, auszuweichen. Ich war bei ihr, bevor sie begriff, dass es zu spät war. Sie konnte nichts tun, als sich meine Eckzähne erbarmungslos in ihre Halsbeuge gruben. Mein Gift gelangte schnell in ihre Blutbahn. Breitete sich unaufhaltsam in ihrem Körper aus.

Grob riss ich meine Zähne aus ihrer Haut, achtete nicht darauf, ob ich auch Fleisch heraus riss. Fünfundachtzig mochte keine Gefühle haben. Aber sie spürte Schmerz. Und davon hatte ich ihr genug gegeben. Sie konnte nicht verhindern, dass sie ihre Augen weit aufriss. Mit ihrer Hand tastete sie vorsichtig nach der Wunde. Schweißperlen funkelten auf ihrer Stirn und am gesamten Leib begann sie schon bald unkontrolliert zu zittern. Kraftlos sank sie auf die Knie. Doch auch dort hielt sie sich nicht lange. Nach wenigen Sekunden lag sie krampfend am Boden.

Mit düsterer Befriedigung betrachtete ich ihren Todeskampf. Der Körper zuckte und zuckte. Ihre Augen rollten nach oben, sodass lediglich das Weiß zu sehen war. Und dann stand ihr Herz still.




Freya Winter - MutantWo Geschichten leben. Entdecke jetzt