Kapitel 100.3

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Jetzt war Liam tot. In einem Sarg aus Eis lag er nun unter der Erde und würde nie wieder das Sonnenlicht sehen. Kraftlos sank ich auf meine Knie und weinte still. Sein Tod war noch nicht einmal eine Stunde her. Sein Körper war noch nicht einmal erkaltet. Und doch lag er in seinem einsamen Grab. Noch vor wenigen Augenblicken hatte er mich aus lebendigen Augen angesehen. Wie hatte das bloß geschehen können?

Seinen letzten Blick hatte er mir gewidmet. Von der Trauer überwältigt krampfte ich mich zusammen, schlang meine Arme fest um mich. Ich konnte hier nicht weg. Es ging einfach nicht. Jeder Meter, den ich mich von seinem Grab entfernen würde, würde etwas in mir zersplittern lassen. Ich brachte es einfach nicht über mich, Liam und sein Grab zurückzulassen.

»Was machen wir mit ... den anderen?«, presste Audra schließlich hervor. Ungern wollte sie die anderen Leichen einfach hier liegen lassen. Außerdem könnten sie von Morvahs Bewohnern gefunden werden.

»Nichts.«, sagte Kieran. »Die anderen werden ihre Kameraden abholen. Sie werden sie nicht hier lassen.« Er klang überzeugt davon. Darum war er auch wohl so sicher gewesen, dass Zweihunderteins mit den restlichen Elitejägern zurückkehren würde. Sollten sie dann wieder auf uns treffen, würde er es kaum dabei belassen, einfach nur die Toten mitzunehmen und dann zu verschwinden. 

»Freya?« Geduldig sah Kieran zu mir.

»Ich kann nicht.«, hauchte ich. »Es geht nicht.« Meinen Blick konnte ich einfach nicht vom Grab losreißen. Es kam mir wie Verrat vor, Liam zurückzulassen. Das konnte ich ihm nicht antun. Das brachte ich nicht über mich, obwohl ich wusste, dass er längst fort war. Dennoch konnte ich es nicht.

Liam war alles, was ich hatte. Alles, was mir geblieben war. Gemeinsam waren wir in den Ambrosia-Laboren gewesen. Unsere Röhren hatten nebeneinander gestanden. Zwar nur für kurze Zeit, aber das zählte. Wir waren zusammen bei Audra und Aldric aufgewachsen. Von da an hatten wir so gut wie alles gemeinsam durchgestanden. Ich konnte nicht gehen und ihn hier allein lassen.

»Freya.« Kieran kniete sich neben mich. Er sprach ruhig und verständnisvoll. Da war Gefühl in seiner Stimme, keine Teilnahmslosigkeit. Zum ersten Mal wirkte es, als sei er wirklich anwesend. Als sei er der Kieran, der er eigentlich hatte werden sollen, bevor das Leben entschied, ihn grausam zu behandeln. »Ich weiß, dass es wehtut. Ich weiß, dass Liam dir viel bedeutet. Doch er würde nicht wollen, dass du alles aufgibst. Und denk dran: Du bist nicht allein. Du hast immer noch Audra.«

Nun ließ sich auch Audra neben mir nieder und ihre traurigen Augen blickten mir liebevoll entgegen. Wortlos schloss sie mich fest in ihre Arme. »Wir schaffen das.«, wisperte sie kaum vernehmbar. Ich könnte es nicht ertragen, wenn ich auch noch sie verlieren würde. Und mit einem Mal wünschte ich, sie wäre mit Harlan und seiner Familie gegangen. Ihren Tod könnte ich nicht auch noch verkraften, zumal ich nicht einmal Liams Tod verkraftete.

Schließlich ließ Audra mich los und half mir wieder auf die Beine. Gemeinsam sahen wir ein letztes Mal auf Liams Grab. Im Stillen verabschiedete ich mich von meinem besten Freund, der mir zugleich ein Bruder war. Mein schmerzendes Herz ignorierend, drehte ich mich um und ging.

Mit jedem Schritt war mir, als würde etwas mehr aus mir heraus gerissen werden. Ein Teil meines Herzens würde wohl für immer hier bleiben. Bei Liam.

Ich lief einfach. Die Richtung war mir egal. Hauptsache, ich lief. Würde ich jetzt stehen bleiben, würde ich womöglich zusammenbrechen und sofort zurückkehren. Also lief ich. Mit schnellen Schritten entfernte ich mich von dem Grab. Wartete nicht darauf, ob Audra und Kieran mir folgten. Unkontrolliert liefen die Tränen über mein Gesicht. Wollten nicht versiegen. Doch ich schenkte ihnen keine Beachtung. 

Freya Winter - MutantWhere stories live. Discover now