Kapitel 72.2

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Kapitel 72.2

Überall hingen Überwachungskameras. Das konnte ich schon von Weitem erkennen. Es brauchte nicht viel – nur ein einzelner Gedanke – und schon waren die Kameras von Eis überzogen.

„Jetzt können wir nur hoffen, dass das nicht sofort auffällt.", merkte Liam an und ich nickte. „Ja, aber fällt dir etwas Besseres ein?", fragte ich und Liam schüttelte seinen Kopf. Wir liefen noch eine Weile neben dem Zaun entlang, bis Liam der Meinung war, dass wir eine geeignete Stelle gefunden hatten.

Skeptisch sah ich an dem Stacheldrahtzaun hinauf. Er war an dieser Stelle genau so, wie an allen anderen Stellen davor. Der einzige wirklich vorstellbare Grund war, dass wir uns an der Hinterseite des Gefängniskomplexes befanden.

Das Gebäude war eintönig und grau. Allein deswegen wirkte es vollkommen trostlos. Die vergitterten Fensterunterstrichen das nur noch. Der Rasen vor der Betonwand war gleichmäßig gewählt. Doch anstatt gepflegt auszusehen, führte er mir nur vor Augen, was für eine strikte Ordnung hinter diesen Mauer herrschte. Verbittert stellte ich fest, dass es mich ein wenig an die alten Labore erinnerte, in denen man mich zu dem gemacht hatte, was ich heute war.

Kurz und knapp gesagt, war das hier alles andere als ein freundlicher Ort.

Ich riss mich aus meinen Gedanken und zwang mich zurück in das Hier und Jetzt. Aufmerksam scannten meine Augen den Stacheldrahtzaun vor mir ab. „Da kommen wir rüber.", stellte ich trocken fest. Liam nickte zustimmend. Beinahe gleichzeitig drehen wir uns zu Kieran. Dieser bemerkte das mit einer hochgezogenen Augenbraue.

„Was?", fragte er kühl.

„Ist das da ein Hindernis für dich?", kam Liam direkt zur Sache und deutete auf den Zaun und den Stacheldraht. Doch Kieran schüttelte seinen Kopf und lachte rau. „Das glaubst du doch nicht wirklich.", stellte er klar. „Ich mag zwar im Gegensatz zu euch kein Serum von gefährlichen Tieren bekommen haben, die alles überwinden können. Aber ich habe ganz andere Mutationen, die mir einen Vorteil schaffen." Dann – ohne Vorwarnung – nahm Kieran minimal Anlauf, sprang, stieß sich mit seinem rechten Bein an einem Baum nahe des Zauns ab, wiederholte das Ganze am Zaun und erneut am Baum, ehe er ohne Schwierigkeiten über den Stacheldraht in ungefähr fünf Metern Höhe glitt. Beeindruckt sah ich zu, wie er auf der anderen Seite landete. Selbstgefällig grinste Kieran Liam an, der sich sichtlich zu ärgern begann.

Leise lachend stieß ich ihm in die Seite. „Du wirst doch jetzt nicht etwa neidisch?"

Liam schnaubte abfällig. „So weit kommt's noch ...", knurrte er und packte mit seinen beiden Händen in die Maschen des Zauns. Mit Leichtigkeit kletterte er die fünf Meter in die Höhe und schwang sich anschließend über den Stacheldraht, der oben befestigt war. Kopfschüttelnd tat ich es ihm gleich.

Auf der anderen Seite angekommen sah ich mich um. Der erste, der leichte Teil wäre schon einmal geschafft. Blieb bloß noch die Frage, wie wir nun unentdeckt in das Gebäude selbst gelangen sollten. Schließlich konnten wir schlecht durch die Tür stolzieren. Obwohl ... eigentlich konnten wir genau das tun. Wer sollte schon in der Lage sein, einen Mutanten aufzuhalten? Geschweige denn, drei von denen?

„Wir hätten uns vorher wirklich Gedanken machen sollen, wie wir in das Gebäude kommen.", merkte Liam nachdenklich an, während er die Mauern vor uns betrachtete. Kieran winkte ab. „Das ist kein Problem.", sagte er. „Wir können entweder an der Fassade rauf klettern, an einem Fenster die Gitter heraus reißen und die Fensterscheibe einschlagen, oder ganz einfach die Tür benutzen."

Der Blick, den Liam Kieran zuwarf, sprach Bände. Fassungslos betrachtete er Kieran. „Das kann doch jetzt nicht dein verdammter Ernst sein!"

Kieran verzog keine Miene. „Und wie das mein verdammter Ernst ist.", erwiderte er vollkommen trocken. „Also. Welche Option wäre euch lieber?" Er wandte sich an mich. „Freya?"

Nun konnte ich auch Liams Blick auf mir spüren. Ganz klar. Was wir tun würden, hing an meiner Entscheidung ab. Aber damit konnte ich Leben. Schnell ging ich beide Optionen noch einmal in meinem Kopf durch. „Das mit dem Klettern wäre zwar möglich, aber würde auch weitaus mehr Zeit und Kraft in Anspruch nehmen. Zudem würde ich sagen, dass wir somit das meiste Risiko eingehen würden.", überlegte ich laut. „Ich glaube, ich wäre tatsächlich dafür, die Tür zu benutzen. Schließlich ist es bloß eine Hintertür. Die wird wohl nicht allzu streng bewacht sein. Außerdem kann uns sowieso niemand aufhalten." Ich konnte Liam ansehen, dass er mir ins Wort fallen wollte, doch ich ließ ihn nicht. Unbeeindruckt sprach ich weiter. „Natürlich würden die Wärter sofort wissen, wer wir sind. Sie werden Verstärkung anfordern und ihre stärksten Geschütze bereitstellen. Doch das würde spätestens dann geschehen, wenn wir Audra bereits haben. Das Schlimmste was passieren könnte ist also, wenn die Alarmanlage losgeht. Aber darum kommen wir vermutlich sowieso nicht vorbei." Kieran sah zufrieden aus. Ich fuhr fort. „Früher oder später wird die Alarmanlage angehen. In diesem Falle vielleicht etwas früher. Aber wir haben nichts zu verlieren."

Liam öffnete zum Protest den Mund, doch schloss ihn sogleich wieder. Er wusste, dass es bereits entschieden war. Es stand zwei gegen einen. Und so ließ er seinen Einspruch komplett sein. Seufzend nickte er. „Okay. Aber wenn es schief geht, seid ihr verantwortlich."

„Damit kann ich leben.", erwiderte Kieran knapp und machte sich auch schon auf den Weg. Liam und ich folgten ihm. Der Weg über kurz geschorene Wiese kam mir endlos vor. Doch schließlich erreichten wir die Hintertür. Sie war aus schwerem Metall und ließ sich nicht öffnen. Natürlich nicht. Es hätte mich auch überrascht, wenn sie offen gewesen wäre.

„Lasst mich mal.", sagte ich und schob mich an den beiden vorbei.

„Ich kann die Tür auch einfach eintreten.", bot Kieran mir an, doch ich schüttelte meinen Kopf. „Wir müssen nicht mehr Aufmerksamkeit auf uns ziehen, als ohnehin schon.", meinte ich und legte meine kühle Handfläche auf das Schlüsselloch. Kaltes Eis bildete sich im Türschloss und nahm die Form des dazugehörigen Schlüssels an. Ich drehte ihn herum und ein Klicken ertönte. Die Tür öffnete sich.

„Siehst du.", sagte ich lächelnd. „Viel leiser. Und vor allem unauffälliger." Den Eisschlüssel ließ ich sogleich wieder schmelzen. Ich zog die Tür weit auf. „Nach euch." Die beiden Jungs liefen an mir vorbei in den schwach beleuchteten Gang. Nach ihnen trat ich ein und zog die schwere Metalltür hinter mir zu. Genau so wie draußen waren die Mauer auch innen trostlos grau. Das elektrische Licht war auf Sparflamme eingestellt und spendete nur wenig Helligkeit.

Der Gang selbst war erstaunlich schmal und in den grauen Betonwänden waren schwere Metalltüren eingelassen, die mit einer kleinen, geschlossenen Luke auf Augenhöhe versehen waren.

„Jetzt müssen wir nur noch James und Lucius finden.", sagte Liam. „Hoffentlich haben sie Audra schon gefunden. Sollte der Alarm gleich angehen, werden sie keine Chance mehr haben, zu Audra zu gelangen." Prüfend betrachtete er den Gang. „Wo sind die Wachen?" Misstrauisch lief er weiter. Wir folgten ihm wachsam. War das hier kein Hochsicherheitsgefängnis? Ich hatte erwartet, dass in jedem Gang mindestens eine Wache positioniert war. Anscheinend hatte ich mich dabei geirrt. Oder wir befanden uns in einem eher seltener benutzten Gefängnistrakt.

„Jetzt wäre es schön, wenn wir die Baupläne des Gefängnisses hätten.", merkte Liam an und ich stimmte ihm im Stillen zu.

„Wir finden die anderen auch ohne Bauplan.", meinte Kieran. Wir blieben vor einer weiteren Tür stehen. Und dieses mal traten die beiden Jungen zur Seite, ohne dass ich etwas sagen musste. Innerhalb von Sekunden hatte ich die verschlossene Tür geöffnet und wir traten in einen breiteren Gang. Dieser war auch ein wenig heller, als der vorherige.

Dieses mal bemerkte ich auch die Anwesenheit von Menschen. Leise, etwas weiter entfernte Stimmen erklangen. Wir befanden uns schon mal auf dem richtigen Weg.

Freya Winter - MutantWo Geschichten leben. Entdecke jetzt