Kapitel 88.3

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Prompt begann Lucius auch schon. „Du hättest die Kinder bei Ambrosia nicht einfach zurückgelassen.", sagte er. „So wie du das erzählst, klingt es so, als hättest du die anderen Kinder nur zufällig befreit, während du die Einrichtung zerstört hast. Aber ich glaube nicht, dass du einfach gegangen wärst, wenn die Kinder noch immer in ihren Röhren gefangen gewesen wären." Das stimmte schon. Aber mein eigentliches Ziel war es damals gewesen, selbst frei zukommen. An die anderen hatte ich, während ich in meiner eigenen Röhre gefangen war, nicht gedacht. Als Lucius sah, wie ich meinen Mund öffnete, um etwas zu erwidern, hob er einmal kurz seine Hand.

„Jetzt rede dich nicht raus. Ich weiß, dass du ursprünglich nur deine eigene Rettung im Kopf gehabt haben musst. Aber du hast die anderen auch befreit. Und es ist auch gar nicht nötig, dass du nur für andere handelst und nur an andere denkst, um etwas Gutes zu tun." So. Er hielt es also tatsächlich für gut, dass ich die Mutanten aus der Einrichtung befreit hatte. Hätte er das vor einigen Wochen auch noch so gesehen? „Letztendlich hast du die anderen befreit. Punkt. Würdest du ausschließlich selbstlos denken und handeln wäre das nicht sonderlich gesund. Und normal wäre es auch nicht."

„Das war dein Beispiel?", wollte ich nicht überzeugt wissen. Wenn das alles war, was Lucius zur Untermauerung seiner These hatte, dann stand sie auf ziemlich wackeligen Beinen.

„Hab ich gesagt, dass ich fertig bin?" Ein kaum merkliches Lächeln zupfte an seinen Mundwinkeln. „Als wir dich und die beiden anderen gefangen hielten, wurden wir von Mutanten angegriffen.", fuhr mein Bruder fort. „Du hast dich dazu entschieden, uns zu helfen."

Ein ungläubiges Lachen entfloh mir. „Das ist definitiv kein gutes Beispiel!", meinte ich. „Ich habe es getan, weil du mein Bruder bist und ich nicht wollte, dass du getötet wirst."

„Das stimmt schon. Aber erhofft haben kannst du dir davon nichts.", gab Lucius zu bedenken. Er klang dabei ein wenig zerknirscht. „Mein Verhalten zu dem Zeitpunkt kann nicht der Auslöser dafür gewesen sein. Für euch wäre es besser gewesen, einfach abzuwarten. Entweder wären wir geflohen oder gestorben und Liam, Kieran und du hättet einfach eures Weges gehen können. Ohne irgendwelche Komplikationen. Aber du hast anders entschieden. Du hast uns davor bewahrt, in irgendeinem Wald das Zeitliche zu segnen. Und weshalb auch immer bist du geblieben."

Er konnte es drehen und wenden, wie er es wollte. Es kam trotzdem immer wieder darauf hinaus, dass ich es für mich getan hatte. Weil ich Lucius nicht verlieren wollte. Obwohl er zu dem Zeitpunkt eher so gewirkt hatte, als würde er mich am liebsten in irgendeinem See ertränken.

„Du wolltest Audra aus dem Gefängnis befreien.", nannte Lucius ein neues Beispiel.

„Ja, weil sie mir wichtig ist. Ich konnte sie doch nicht einfach in einer Zelle lassen, nur weil sie nett zu Mutanten ist.", erwiderte ich.

„Du wusstest, dass es ein Risiko ist. Und trotzdem wollten Liam und du unbedingt in Wandsworth ein- und wieder ausbrechen.", fuhr Lucius fort. Genervt seufzte ich auf und verschränkte meine Arme vor meiner Brust.

„Wir haben euch alle mit da rein gezogen, obwohl ihr gar nichts mit Audra zu tun hattet. Du hast Audra vermutlich erst im Besuchsraum das erste Mal gesehen.", meinte ich.

Mein Zwilling nickte. „Aber ich hätte auch einfach nein sagen können. Ihr hättet zu zweit gehen können. Vermutlich hätte das an euren Erfolgschancen nicht wirklich etwas geändert." Vielleicht. Aber er und die anderen waren eine unglaubliche Hilfe gewesen. Auch wenn diese ganze „Mission" nicht so geendet hatte, wie sie hätte enden sollen.

„Wenn das alles war, dann ist deine Argumentation ziemlich schwach.", sagte ich. Doch erneut zog ein Lächeln leicht an seinen Mundwinkeln. Er hatte noch etwas in der Hinterhand. Was auch immer das sein mochte, ein Trumpf konnte es wohl kaum sein.

Freya Winter - MutantWo Geschichten leben. Entdecke jetzt