Kapitel 98.5

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Da war sie wieder. Das Mädchen von der Straße, das ich bereits auf dem Rastplatz gesehen hatte. Ihre Gestalt war sehr blass und ihre Haut erschien wie meine weiß. Ebenso war ihr Haar weiß wie Schnee. Große, spitz zulaufende Ohren standen von ihrem Kopf ab und waren mit rein weißem Fell überzogen. Große braun-gelbe Augen visierten Kieran an, doch auch uns beobachtete sie aus ihren Augenwinkeln.

Dennoch schien sie Kieran als die größere Gefahr anzusehen, was mich im ersten Moment erstaunte. Schließlich war ich die, die sie das letzte Mal in einem Gefängnis aus Eis eingesperrt hatte. Aber soweit ich das beurteilen konnte, kannte sie Kieran und wusste ihn dann wohl einzuschätzen. 

»Ist Zweihunderteins bei dir?«, wollte Kieran wissen. Doch die Mutantin antwortete ihm nicht. Vermutlich sah sie den Sinn dahinter nicht, da sich seine Frage wahrscheinlich bald schon von selbst beantworten würde.

Urplötzlich schoss sie vor. War schnell, doch Kieran war schneller. Erneut wich er ihrem Angriff aus und ehe ich mich versah, hatten sich seine Hände zu mit Krallen besetzten Klauen verformt. Er knurrte drohend. Aber Fünfundachtzig beeindruckte das nicht. Erneut versuchte sie, ihre mit ihrer schneeweiße Hand und den spitzen Fingernägeln in Kierans Nähezu gelangen.

Schnell wirbelten die beiden umeinander, dass es auch ein spezieller Tanz hätte sein können, würde Fünfundachtzig nicht immer zu nach Kieran schlagen. Geschickt bewegte sie sich immer wieder in seine Nähe und wich flink zurück, wenn sie befürchtete, dass Kieran seine Klauen in ihrem Fleisch vergraben könnte. Erst jetzt bemerkte ich, dass die beiden Gegner einander wirklich gut kannten, weshalb es für sie beide schwierig war, einen Treffer zu landen. Eine markerschütternde Vermutung kam in mir auf. Kieran hatte einmal erzählt, dass er als Soldat in der Armee gekämpft hatte und dass er seine Gefühle abgeschaltet hatte. Außerdem wusste er über die Elitesoldaten Bescheid. War es möglich, dass er auch einer von ihnen hatte werden sollen? Waren sie etwa zusammen ausgebildet worden?

Noch immer kämpften Kieran und Fünfundachtzig miteinander. Doch irgendwie kam es mir vor, als hielte er sich zurück. War langsamer als sonst. Aber weshalb? Weshalb sollte er sich zurückhalten? Worauf wartete er? Wollte er Fünfundachtzig etwa testen?

Jedenfalls analysierte er sie mit seinen Blicken. Ahnte jede ihrer Bewegungen voraus und konnte ausweichen. Dennoch griff mehr sie an als er. Trotz des Kampfes wagte ich nicht, mich einzumischen. Es handelte sich lediglich um eine einzige Elitesoldatin und Kieran wirkte, als würde er mit ihr zurecht kommen. Dennoch wusste ich nicht, ob wir ihn allein lassen sollten. Er hielt sie auf, theoretisch könnten Liam und ich Audra in Sicherheit bringen. Doch was, wenn nicht bloß Fünfundachtzig hier war? Dann würden wir in einen Hinterhalt geraten. Wir mussten zusammenbleiben.

Und plötzlich schoss ein weiterer Mutant aus dem Dickicht hervor. Sein Haar war schwarz wie Kohle und seine Augen mandelförmig und dunkelbraun. Vom Körperbau war er groß und muskelbepackt. Auch er hatte Krallen und sein Gebiss wirkte kräftig. Es würde mich nicht wundern, wenn er lauter spitzer Zähne in seinem Mund hätte.

Wie eine Abrissbirne stürmte er auf Kieran zu und wüsste ich nicht, dass nichts Kieran etwas anhaben konnte, würde ich jetzt befürchten, dass der Zusammenstoß ihm alle Knochen brechen würde. Doch bevor es überhaupt dazu kommen konnte, sprang Kieran hoch, sodass der neue Mutant einfach weiter rannte und einige Sekunden verlor, in denen er sich erst einmal bremsen musste.

 Kieran beeindruckte die mächtige Gestalt des Neuankömmling nicht. Er schien noch nicht einmal beunruhigt, weil jetzt zwei Elitejäger vor Ort waren. Doch dann wandte sich der Bär von Mutant mir zu. Und mir wurde bewusst, dass er Kieran Fünfundachtzig überließ. Kaum merklich nickte Kieran mir zu. Es ging los. Jederzeit könnte ein weiterer Elitesoldat aus den Schatten des Waldes auftauchen. Womöglich hatten wir einen Fehler begangen, als wir in den Wald gerannt waren, anstatt auf offenen Feld zu kämpfen.

»Freya-«, begann Liam.

»Ist schon gut.«, unterbrach ich ihn. »Ich mache das schon. Passe du auf Audra auf.« Knapp, aber entschlossen, nickte er. Sanft legte er sie ein wenig abseits ab. Sie blinzelte, während sie mit dem Rücken an einem Baumstamm lehnte und uns ansah. Wie viel sie tatsächlich mitbekam, konnte ich nicht sagen. Sie kam mir noch nicht so vor, als wäre sie wieder vollkommen bei Bewusstsein. Liam blieb bei ihr. Bereit, sie vor den Mutanten zu schützen.

Gleichgültig blickte der Bär auf mich herab. Dieses Mal würde mein Eis ihn nicht überraschen. Trotzdem würde er nicht viel dagegen tun können, würde ich ihn wieder darin einsperren. Dennoch stellte sich mir die Frage, ob das sinnvoll wäre. Sie würden immer und immer wieder kommen. Würden niemals aufgeben, uns zu jagen, würden uns immer wieder finden. Es gab kein Entkommen. So wenig es mir gefiel, doch Lucius hatte recht gehabt. Wir mussten sie töten. Ein für alle Mal. Sonst hätten wir niemals Ruhe. Und ich konnte es nicht verantworten, dass ich Audra wegen meines Widerwillens, Mutanten zu töten, in Gefahr brachte.

Der Bär knackte einmal mit den Knöcheln, seine Augen lagen stets auf mir. Dann stürmte er auch schon wieder los. Und die schiere Kraft, die mich in den Abgrund reißen wollte, ließ mein Herz heftiger klopfen. Ich spannte jeden meiner Muskeln an, ließ meine Haut hart wie Eis werden. Vermutlich konnte der Bär weniger schnell ausweichen. Das musste ich mir zu Nutze machen.

 Gerade rechtzeitig wich ich zur Seite aus, spürte noch den Lufthauch, als der Bär an mir vorbei stürmte, spürte die Wärme, die von seinem Körper ausging. Blitzschnell breitete sich von dem Teil des Bodens, den meine Füße berührten, eine dünne, aber feste Eisschicht aus, genau in Richtung des Bären, der gerade dabei war, aus seinen Stierlauf auszubrechen.

Unbarmherzig erreichte mein Eis ihn und sobald er den nächsten Schritt getan hatte, verlor er den Halt. Mit rudernden Armen versuchte er, sein Gleichgewicht wiederzufinden, doch da er noch viel zu viel Schwung hatte, war dies unmöglich. Mit einem lauten Krachen fiel der mächtige Körper zu Boden, schlug hart auf dem Eis auf. Und um zu verhindern, dass er sich wieder erhob, griff mein Eis gnadenlos nach ihm. Kletterte an ihm hoch, verfestigte sich, bis er schließlich in einem eisigen Sarkophag eingeschlossen war. Nicht im Stande sich zu bewegen, war es ihm also auch nicht möglich, sich frei zu schlagen.

Leider hatte das auch Fünfundachtzig bemerkt. Ihre braun-gelben Augen legten sich auf das kalte Grab. Ihr Anblick verriet mir, dass Kieran sich nicht mehr weiter zurückgehalten hatte. Rubinrote Rinnsale verklebten das schneeweiße Fell an ihren Ohren, verfing sich in ihrem hellen Haar, färbte es dunkel. Nahe ihrer Kehle erblickte ich fiese Kratzer und Schnitte, die allerdings noch nicht tief genug waren, um ihr wirklich zu schaden. Es schien, als sei sie immer knapp ausgewichen, um zumindest verhindern zu können, sich eine tödliche Wunde einzufangen.

Gerade wollte sie los flitzen, um ihren Kameraden zu befreien, da kam auch schon Kierans Klaue aus dem Nichts angeflogen. Eine in Rot getauchte Kralle. Unbarmherzig bohrte sie sich in Fünfundachtzigs Schulter und riss sie hart zurück. Entschlossen setzte er zum letzten Schlag an, um ihre Kehle durchzuschneiden, doch so weit sollte es nicht kommen. 

Vom Himmel her stürzte ein dunkler Pfeil herab. Trennte Kieran und Fünfundachtzig voneinander. Schwarz breiteten sich die ledernen Flügel aus, drohend. Der Fledermausmutant hatte sich zu uns gesellt. Dunkle Augen überflogen rasch das Geschehen.

»Flavio.«, knurrte Kieran. 





Freya Winter - MutantWhere stories live. Discover now