Kapitel 93.3

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Tatsächlich war es gar nicht so schlimm auf der Autobahn zu fahren, wie Lucius anfangs gedacht hatte. Die ganze Zeit über fuhr er auf der linken Spur und das Tacho überschritt niemals die 80 km/h. Zwar wurde er die ganze Zeit – zum Teil auch von LKWs – überholt, aber das machte uns beiden nichts aus. Auch wenn das bedeutete, dass wir definitiv mehr als viereinhalb Stunden brauchen würden.

„Da vorne ist ein Rastplatz.", machte ich ihn darauf aufmerksam, dass eine Pause jetzt sinnvoll wäre. Die ganze Zeit über hatte mein Bruder sich nicht entspannt. Seit etwa einer halben Stunde fuhr er angespannt über den grauen Asphalt und ich war mir sicher, dass er mittlerweile ganz verspannt sein musste. Knapp nickend zeigte er mir, dass er verstanden hatte.

Nun war es an mir nervös zu werden. Gleich würde ich nämlich an seiner Stelle fahren. Mit vielen Dingen hatte ich keine Probleme. Zum einen war das, meine Fähigkeiten zu benutzen. Wenn es nötig war, auch gegen Menschen. Zum anderen, beispielsweise auch der Einbruch in ein Gefängnis oder andere Dinge, die ich für richtig hielt. Demnach war es geradezu lachhaft, dass ich allein bei dem Gedanken daran, gleich fahren zu müssen, nervös wurde.

Ungeschickt lenkte Lucius den Wagen auf den Rastplatz. Dieser war nichts Besonderes. Er war recht groß, es gab eine Tankstelle und eine kleine Raststätte, hinter der sich eine große Wiese befand, die von einem Zaun von einem kleinen Wäldchen getrennt wurde. So weit ich sehen konnte, waren recht wenig Menschen hier.

Schief parkte Lucius auf einem Parkplatz und schaltete den Motor aus. „Sollte jemand fragen, sagen wir, dass du die Mutantin meiner Familie wärst und wir unterwegs zu meinen Großeltern wären. Dich müsste ich mitnehmen, weil diese keinen Mutanten hätten und sie dieses Wochenende ihren siebzigsten Geburtstag feiern, weshalb ich dich als Aushilfe mitnehmen müsse.", sagte Lucius. „Ich hoffe, das sollte ausreichen, um nicht allzu verdächtig zu wirken."

„Das hoffe ich auch.", meinte ich. „Immerhin bin ich nicht gerade unauffällig." Kurz darauf fiel mir noch etwas ein. „Dürfen Mutanten überhaupt Auto fahren?"

Einen Moment dachte Lucius nach. Dann nickte er. „Ja. Man sieht es nicht oft, aber es ist erlaubt. So lange sie nicht alleine im Auto sitzen und ihr Besitzer dabei ist oder dieser eine schriftliche Erlaubnis mit dem Grund für die Autofahrt mitgegeben hat." Für einen Augenblick war ich erleichtert. Bis mir etwas auffiel.

„Kann man denn den richtigen Besitzer eines Mutanten ausfindig machen?" Es missfiel mir „Besitzer" zu sagen. Wir waren keine leblosen Gegenstände, die man besitzen konnte. Wir waren eigenständige Personen.

Lucius' Gesicht verdunkelte sich. „Theoretisch kann man das. Manche Mutanten sind auf ihre Besitzer registriert. Aber nicht alle. Den meisten Behörden ist es egal, bei welchem Menschen welcher Mutant untergekommen ist, so lange diese keinen Ärger machen." Kurz schwieg er. Dann fragte er leise: „Bist du auf die Harris' registriert, Freya?" Ihm war anzusehen, dass ihm dieser Gedanke nicht gefiel. Und dass es Probleme bringen würde, wenn dem tatsächlich so wäre.

Zu seiner Erleichterung schüttelte ich meinen Kopf. „Nein.", sagte ich. Bisher hatte ich nicht einmal mit Sicherheit gewusst, dass manche Mutanten auf einen Menschen registriert waren. Anscheinend hatten Audra und Aldric es niemals für nötig gehalten, das auch mit mir zu tun. Nicht einmal, als ich tatsächlich nur eine Sklavin für sie gewesen war. Unglaublich, wie lange das bereits her war. Wie viel sich seither verändert hatte.

„Gut.", sagte Lucius zufrieden. „Dann wird es keine Schwierigkeiten geben, dich als meine Mutantin auszugeben. - Reichst du mir mal den Rucksack?" Enyas Rucksack lag bei mir im Fußraum. Dort zog ich ihn heraus und übergab ihn meinem Bruder. Dieser stellte ihn sich auf die Knie und öffnete ihn. Neugierig blickte er hinein und zog auch sogleich zwei Wasserflaschen heraus, von denen er eine mir reichte. Dankend nahm ich sie entgegen.

„Hm, was haben wir hier? Einige Sandwichs, etwas Obst und viele Süßigkeiten und Müsliriegel.", zählte Lucius auf. Währenddessen hatte ich meine Wasserflasche geöffnet und ein paar Schlucke getrunken.

„Was ist auf den Sandwichs drauf?", wollte ich wissen. Ein paar von ihnen holte Lucius aus dem Rucksack und betrachtete sie.

„Das hier sieht aus wie Salat, Ei und Schinken." Er besah sich das Nächste. Irritiert runzelte sich seine Stirn. „Ist das etwa Hackfleisch mit Zwiebelmett?"

Ich unterdrückte ein Lachen. Bestimmt war das eine Kombination, die Samuel gerne aß. Ansonsten konnte ich mir nicht vorstellen, weshalb Enya uns diese Kombination mitgegeben hatte. „Ich schätze, das ist für mich.", sagte ich.

„Aha. Okay." Lucius überreichte mir das Sandwich. „Hast du das schon mal gegessen?", fragte er, woraufhin ich den Kopf schüttelte. „Ich glaube, ich nehme das hier." Alle Sandwichs, bis auf das mit Salat, Ei und Schinken, wurden wieder zurück in den Rucksack gelegt. Knisternd zog er das Sandwich aus der Papiertüte. Ich tat es ihm gleich. Beinahe zeitgleich bissen wir in unsere Brote. Schweigend aßen wir, während wir durch das Fenster sahen. Tatsächlich schmeckte die Kombination aus Hackfleisch und Zwiebelmett gar nicht mal so schlecht. Zuerst war ich nicht wirklich überzeugt gewesen.

„Ist das nicht ein bisschen viel Fleisch?", wollte Lucius skeptisch wissen.

Trocken lachte ich auf. „Das sagst gerade du?" Soweit ich mich erinnerte, hatte Lucius als Kind immer gerne Fleisch gegessen. Wenn wir gegrillt hatten, hatte er das Kräuterbaguette und den Salat immer ignoriert und sich auf Bratwürste und Hähnchenfilets gestürzt. Daraus hatte er sich immer einen Burger gebastelt. Ohne Brot. 

„Ich bin Vegetarier.", erwiderte mein Bruder nüchtern. Für einen Moment hielt ich ungläubig inne. Bis mein Blick auf sein Sandwichfiel fiel, das mit Schinken belegt war. Fragend hob ich eine Augenbraue. Ein Lächeln zupfte an seinen Mundwinkeln und wurde breiter. „Fast hättest du mir geglaubt."

„Aber nur fast.", sagte ich. Erneut bissen wir in unsere Brote und Schweigen erfüllte das Auto.

Wolken hatten sich vor die Sonne geschoben und die Blätter der Bäume wehten sachte im lauwarmen Wind. Vor unserem Auto lief eine kleine, junge Familie auf dem Gehweg vorbei. Wie kleine Entenküken folgten die zwei Kinder ihrer Mutter. Diese blickte immer wieder nach hinten um sicherzustellen, dass ihre etwa dreijährigen Kinder auch immer noch da waren. Eines der Kinder begann im Hopser-Lauf seiner Familie weiter zu folgen. Hinter ihnen kam ein Mann, vermutlich der Vater, hinterher gerannt. Obwohl sein Haar grau war, war er alles andere als alt. Außerdem lagen dunkle Schatten um seine Augen, wodurch er aussah, als hätte er viel zu wenig Schlaf abbekommen. Oder war das Schminke? Außerdem hatte er weiße Augenbrauen. Zumindest würde es zum Rest seines Aussehens passen. Immerhin trug er einen langen, schwarzen, aber dünnen Mantel und ein Nietenarmband. Und in seiner Lippe steckten zwei Piercings nebeneinander. Ebenso in seinem linken Ohr. In seiner Hand hielt er ein Portemonnaie, das die Mutter anscheinend vergessen hatte.

Ein großer, schwarzer Wagen parkte einige Meter von uns entfernt auf der gegenüber liegenden Seite. Das Auto sah noch recht neu aus und war sicherlich nicht gerade billig gewesen. Zudem waren die Scheiben verdunkelt. Alle sechs Türen des Wagens öffneten sich und sechs ernst dreinblickende Personen stiegen hinaus. Ich blinzelte. Langsam zogen sich meine Augenbrauen zusammen. Konnte das sein? Es waren drei Jungs und drei Mädchen. Alle etwa im Alter von achtzehn bis dreiundzwanzig Jahren. Und keiner von ihnen war menschlich. 

Freya Winter - MutantWo Geschichten leben. Entdecke jetzt