Kapitel 95.6

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Jo verzog ihr Gesicht. »Das ist schon richtig. Doch wir können es auch nicht gebrauchen, dass hier ein Mutant austickt.«, warf sie ein. Ihr Gesicht war eine eiserne Maske. »Er ist ein Mutant, vergiss das nicht. Wenn er austickt, ist das was anderes, als wenn es ein Mensch tun würde. Er könnte alles in Schutt und Asche verwandeln.« Mit einem Blick auf Liam fügte sie hinzu: »Nichts für ungut.« Doch der winkte einfach ab.

»Wir sollten lieber über die Elitejäger sprechen.«, fuhr sie ernst fort. »Die sehe ich momentan als noch ein größeres Problem. Was, wenn sie uns finden?«

»Töten. Was sonst?«, sagte Mikéle. »Wir sind in der Überzahl. Das sollte kein Problem sein.« Etwas in mir zog sich bei seinen Worten zusammen. Konnten wir sie wirklich einfach töten? Sie waren Mutanten. Und ihnen war Schreckliches zugestoßen. Nicht ohne Grund waren sie jetzt so, wie sie waren.

Leise flüsterten in mir die Worte meines Bruders, die er auf dem Rastplatz geäußert hatte: »Menschen zu töten macht dir nichts aus. Aber wenn du schon tötest, dann mach es auch konsequent und unterscheide dabei nicht zwischen Menschen und Mutanten!«

Unerwünscht hallten sie in meinem Kopf. Ließen sich nicht abschütteln. Irgendwo hatte Lucius recht. Ich hatte ihn verurteilt, weil er Mutanten tötete. Aber ich? War ich wirklich so viel besser? So wie er zwischen Mensch und Mutant unterschied, so unterschied auch ich. Nach wie vor trennte uns diese Sichtweise voneinander. Doch ich war noch nicht bereit, es anders zu sehen. Dafür loderte tief in meinem Inneren ein unbändiger Zorn und auch Hass auf die Menschen. Zumindest auf die, die es verdient hatten. Diejenigen, die sich Mutanten wie Sklaven hielten. Diejenigen, die uns in den Krieg zum Sterben schickten, nur, damit es keine Menschen waren, die den Tod fanden. Diejenigen, die uns als Experimente sahen, als minderwertig, nicht als Lebewesen. Und Diejenigen, die ihre Augen verschlossen und ihr Leben weiterlebten, als sei das alles niemals geschehen.

»Komm.«, riss Kieran mich plötzlich aus meinen düsteren Gedanken. Überrascht blickte ich auf. Er saß nicht mehr länger neben mir, sonder stand vor mir. »Ich zeige dir deinen Schlafplatz.« Irritiert sah ich ihn an. Natürlich war ich müde. Dennoch hatte ich eigentlich noch nicht vorgehabt, jetzt schlafen zu gehen. Doch wenn ich es mir recht überlegte, machte es auch keinen Unterschied, jetzt zu gehen. Aus den Gesprächen hatte ich mich herausgehalten und auch keiner dera nderen hatte Anstalten gemacht, sich mit mir zu unterhalten. Erst jetzt bemerkte ich die Distanz, die so plötzlich zwischen mir und den anderen entstanden war, dass ich sie gar nicht bemerkt hatte.

Sie diskutierten untereinander über mögliche Vorgehensweisen, sollten die Elitesoldaten uns finden. Aber keiner von ihnen bezog mich mit ein. Zwar bemerkte ich ab und an Audras und Liams Blicke auf mir, doch auch sie blieben auf Abstand. Ob sie mir vielleicht nur erst einmal ein wenig Freiraum geben wollten? Oder war es vielleicht etwas anderes? Mein Herz zog sich bei letzterem Gedanken krampfhaft zusammen.

Also erhob ich mich und folgte Kieran. In meinem Rücken spürte ich Liams Blick. Doch er hielt uns nicht auf. Sobald wir das Wohnzimmer verließen, verschluckte uns die Dunkelheit. Aber keiner von uns beiden machte Anstalten, das Licht einzuschalten. »Es sind nicht genug Zimmer hier, als dass du alleine schlafen könntest.«, informierte er mich, während er die hölzerne Treppe empor schritt.

»Das hatte ich schon fast erwartet.«, sagte ich. Alles hier war so unpersönlich eingerichtet. Keine privaten Bilder, nichts, das auf die eigentliche Hausbesitzerin hinwies. Es hätte genauso gut ein Hotel sein können. Kieran führte mich an das Ende des Ganges und öffnete schließlich eine Tür. »Das Cottage hat zwei Schlafzimmer. Das hier ist eines davon. Du teilst es dir mit Liam und Audra.« Auf dem Boden neben dem Bett lag eine Luftmatratze. Auch hier gab es sonst außer dem Bett, der Kommode und einem Schrank keine weiteren Möbel. Und hier war nirgendwo Dekoration zu sehen. Die Wände waren weiß gestrichen und nackt.

»Kleidung findest du im Schrank.«

»Danke.«, sagte ich. Kieran nickte knapp. Dann wandte er sich zum Gehen. Er streckte die Hand nach der Türklinke aus, seine Finger umschlossen sie und er hielt inne. Leicht wandte er mir seinen Kopf zu. Für einen Moment war es still. Kurz glaubte ich, dass er sich dazu entscheiden würde, zu gehen. Doch dann erhob er das Wort. Seine Stimme war ruhig und ein überraschend wehmütiger Klang schwang in ihr mit: »Du bist genauso ein Experiment, wie ich es bin.«

Irritiert starrte ich ihn an. Seine Worte fasste ich nicht als Beleidigung auf. Es war nicht Kierans Art, mir grundlos Beleidigungen entgegenzuschleudern. Das, was er sagte, hatte einen Hintergrund. »Du musst nicht darüber sprechen. Ich weiß, dass man an dir herumexperimentiert hat, nachdem sie euch in Wandsworth mitgenommen haben.«

Ich wusste nicht, was mich mehr überraschte. Die Tatsache, dass Kieran gerade ein Gespräch mit mir anfing oder dass seine Worte eine ganz persönliche Note hatten. Doch die Gedanken an Clausens Labor verdrängten diese Überraschung nur zu schnell. Clausen hätte es gar nicht erst geschafft, mir dieses widerliche Serum zu verabreichen, wenn Lucius ihm nicht geholfen hätte. Verbittert presste ich meine Zähne fest aufeinander.

»Man hat es nicht darauf beruhen lassen, dich zu einer Mutantin zu machen.«, sprach Kieran weiter. »Sondern hat weitergemacht. Hat dich weiter verändert. Menschen lieben es, Gott zu spielen. Das lässt sie alle moralischen Grenzen überschreiten. Das, die Gier und ihre Arroganz.« Ein ungeheuerliches Funkeln trat in seine dunklen Augen. Doch anstatt beunruhigt zu sein, fühlte ich mich ihm näher als sonst. Da war keine Gefühllosigkeit, keine Gleichgültigkeit. Kieran wirkte verbittert, zornig und vor allem: hoffnungslos. Als hätte er sich mit alledem abgefunden. Als hätte er aufgegeben. Und das war weitaus erschreckender, als seine alltägliche Teilnahmslosigkeit.

Instinktiv hob ich meine Hand, wollte sie ihm auf den Arm legen, doch ich hielt mich zurück. »Was ist passiert?«, fragte ich stattdessen. In mir spürte ich, dass Kieran sich mir vielleicht öffnen würde. Dass uns etwas verband, das die anderen nicht nachvollziehen konnten. Dass wir uns in gewisser Weise ähnelten. Oder zumindest Ähnliches erlebt hatten. Mehr noch als Liam und ich.

»Die Wissenschaftler hatten nie genug.«, sagte Kieran düster. Unerbittlich lagen seine Augen auf meinen. »Sie waren nicht zufrieden, als ihnen meine Mutation geglückt war. Sie wollten mehr. So viel mehr.« Er hatte die Türklinke losgelassen und sich mir nun vollkommen zugewandt. Das letzte Mal, als er über seine Vergangenheit gesprochen hatte, war kurz vor Audras Befreiung aus dem Gefängnis gewesen. Ich erinnerte mich noch gut an seine Worte.

»Du hast einmal angedeutet, dass sie alles Mögliche an dir verändert haben.«, erinnerte ich mich. »Aber genauer bist du darauf nicht eingegangen.«

Ein Lächeln, halb traurig, halb düster, legte sich wie ein Totenschleier auf seine Lippen. Kierans Farben waren die der Dunkelheit. »Nein.«

»Du bist Nummer Neununddreißig.«, sagte ich. »Einer der Ersten.« Ein ungutes Gefühl grub sich in meine Eingeweiden. Und verharrte dort. Bekanntlich waren die ersten Experimente meist nicht sonderlich erfolgreich. Auch Kieran hatte das damals angedeutet. Es war nun einmal die Anfangsphase. Das erste Herantasten.

»Ich bin Nummer Neununddreißig.«, bestätigte Kieran. Das Lächeln war von seinen Lippen gefallen. Eine Maske der Finsternis lag auf seinem Gesicht. »Ich war fast drei Jahre alt, als man mich meiner Familie entriss. Meine gesamte Kindheit habe ich in einem einzigen, kahlen Labor verbracht. Mein Zimmer, falls man es denn so nennen kann, war ein winziger Raum ohne Fenster, in dem sich bloß ein Bett befand. Ich hatte keine Spielzeuge, keine Freunde. Bereits mit drei Jahren hat man mir meine Menschlichkeit genommen.« Ich musste schlucken. Anders als ich konnte Kieran sich an kein Leben ohne Mutation erinnern. Für ihn war es niemals anders gewesen. Er hatte nur das Labor gekannt, aber niemals seine Familie.

Freya Winter - MutantWhere stories live. Discover now