Kapitel 100.2

1.3K 150 23
                                    

Mit finsterer Entschlossenheit wandte ich mich der Fledermaus zu. Diese betrachtete mich mit einem undefinierbaren Ausdruck auf dem Gesicht. Dennoch bemerkte ich, dass Zweihunderteins die Augenbrauen leicht zusammengezogen hatte. Die erste Regung in seiner Miene. Doch mir war das egal. Selbst wenn er mit einem Mal all seine Gefühle zurück bekommen hätte, wäre es mir egal.

Er hatte verhindert, dass ich Liam zur Hilfe eilen konnte. Auch er trug Schuld an seinem Tod. Dafür würde er büßen. Doch ehe ich zum nächsten Sprung ansetzen konnte, breitete die Fledermaus ihre Flügel aus und katapultierte sich kraftvoll in die Höhe. Zog sich zurück und überließ uns uns selbst. Es hatte auch keinen Sinn, ihm Eis nachzuschießen. Er würde ohnehin bloß ausweichen.

Und das Wissen darum, erzürnte mich bloß noch mehr. Ich konnte rein gar nichts tun. Er kam davon, während Liam sein Leben gelassen hatte. Eines Tages, schwor ich mir. Eines Tages würde ich die Fledermaus wiedersehen. Und es würde der letzte Tag sein, den sie je erleben würde.

Mit Fünfundachtzigs Tod und Zweihunderteins' Rückzug verließ mich auch meine Wut sowie mein Hass. In mir blieb nichts als Leere zurück. Trüb lagen meine Augen auf der Leiche meines besten Freundes. Mir war ganz kalt, obwohl mir die Kälte doch sonst nichts ausmachte. Aber jetzt ließ sie mich zittern. Wie betäubt lief ich zu Liam und ließ mich wieder neben ihm auf den Boden sinken. Wortlos zog ich ihn zu mir und umarmte ihn. Ich wollte ihn nicht loslassen. Niemals.

Lautlos wie ein Schatten tauchte Kieran neben mir auf. Er sprach nicht. Und dafür war ich ihm dankbar. Erneut kamen die Tränen und ich klammerte mich fest an meinen besten Freund. Ich konnte mir nicht vorstellen, jemals wieder aufzustehen oder gar ihn loszulassen. Jemals wieder irgendwohin zu gehen und mein Leben fortzuführen, erschien mir unmöglich. Wie könnte ich ihn je zurücklassen?

Verzweifelt umklammerte ich Liam. Meine Tränen durchnässten sein Haar. Mir war es egal, dass ich in einer Pfütze aus Blut saß. Mir war es egal, dass uns hier jederzeit einer der Bewohner Morvahs entdecken könnte, denn wir waren nicht sehr weit gekommen. Mir war einfach alles egal.

Ich übergab mich vollständig der Trauer. Ergab mich dem Schmerz und hieß ihn wie einen alten Freund willkommen. Ohne Liam erschien mir alles grau. Und sein Verlust tat mir mehr weh, als Ambrosia und alle Wissenschaftler auf der Welt es je könnten. Noch mehr, als selbst Lucius es könnte.

Ohne Liam konnte ich nicht leben. Ich wollte – ich konnte – nicht glauben, dass es das jetzt gewesen war. Dass er für immer fort war. Außerhalb meiner Reichweite. Es wollte einfach nicht in meinen Kopf, dass er tot war. »Liam« und »tot« in einem Satz funktionierte nicht. Mein Herz wollte nicht akzeptieren, was mein Verstand längst begriffen hatte.

Es ignorierte den Fakt, dass seine Leiche hier bei mir war. Es ignorierte den Fakt, dass seine Augen jedes Leuchten und jeden Fokus verloren hatten. Und es weigerte sich einzusehen, was das für ihn bedeutete. Jeden Moment könnte Liam blinzeln und mit einem Mal wäre alles zurück: Sein Feuer, sein Leben. Jeden Augenblick könnte er wieder anfangen zu atmen.

Stur und verzweifelt kämpfte mein Herz gegen meinen Verstand an. Ich wusste, dass Liams Körper zu arbeiten aufgehört hatte. Ich wusste, dass er niemals wieder aufwachen würde. Aber mein Herz wollte nicht. Es wollte einfach nicht. Es würde lieber bluten und zerbrechen, als der Wahrheit ins Gesicht zu sehen. Es wollte die Realität verleugnen.

»Wir müssen gehen.«, brach Kieran schließlich die Stille. Ich wusste, dass er mir eigentlich Zeit geben wollte, doch das konnte er nicht mehr. »Die restlichen Elitesoldaten könnten bald eintreffen.« Zweihunderteins könnte Verstärkung geholt haben. Doch mir war das egal. Sollten sie doch kommen. Ich würde bei Liam bleiben. Und wenn nötig, würde ich jeden Einzelnen von ihnen vergiften oder mit meinem Eis durchbohren.

Freya Winter - MutantWhere stories live. Discover now