Kapitel 101.2

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Noch nicht ganz. Jedenfalls würde es darauf ankommen, wie sehr Marcys Mutation auch ihr Äußeres verändert hatte.

»Möchtest du denn auswandern?«, fragte ich.

Steve seufzte und dachte kurz nach. »Ich weiß es nicht.«, gab er dann zu. »In Morvah geht es Marcy gut. Dort ist so sicher wie nirgendwo sonst in England. Zwar heißt es, dass Mutanten und Menschen in Spanien Seite an Seite zusammenleben, doch wie können wir mit Sicherheit wissen, dass das auch stimmt? Das Risiko möchte ich nicht eingehen. Und dann kommt noch die fremde Sprache hinzu. Außerdem ist hier unsere Heimat.« Anders als Harlan und seine Familie würde Steve sich wohl nicht überwinden und einen kompletten Neuanfang wagen. Aber die Situation von Harlans Familie war auch deutlich gefährlicher gewesen, weshalb auszuwandern als die deutlich bessere Option erschienen war. Immerhin hatte er Kinder gemeinsam mit einem Menschen. Etwas, was es noch nie zuvor gegeben hatte.

Steve dagegen musste nur eine einzige Person verstecken und in Morvah konnte sie einigermaßen sicher leben. Nicht jeder hatte das Glück, auch von den Nachbarn unterstützt zu werden.

»Oh, seht mal!«, sagte Steve plötzlich. »Eine Raststätte. Hat jemand Hunger?« Mittlerweile war es Mittag. Als Steve von der Autobahn fuhr und nach einem Parkplatz suchte, kam in mir auf einmal wieder die Erinnerung an meine letzte Raststätte hoch. Dort waren wir auf Harlan, seine Familie und die Elitesoldaten gestoßen. Also war ich ganz froh, dass Steve nur kurz in das Gebäude rein huschte, Essen kaufte und wieder in den Wagen einstieg. Schneller als gedacht tuckerte das alte Ding wieder über die Fahrbahn.

»Weiß deine Tochter eigentlich, dass du erst einmal fort bist?«, fragte Audra besorgt. Und er nickte. »Sie hat zwar kein Handy, da wir vermeiden wollen, dass Hacker oder die Regierung von ihr erfahren, aber ich habe Owen benachrichtigt. Er wird das dann an sie weitergeben.« Nun wirkte Audra beruhigt.

Danach folgte wieder eine Welle des Schweigens. Alle waren mit ihrem Mittagessen beschäftigt, das aus belegten, warmen Baguettes und Bratkartoffeln bestand. Wir waren schon lange unterwegs. Das bedeutete, dass wir eigentlich bald da sein müssten.

»Du solltest deine Bekannten vorwarnen, dass wir auf dem Weg sind.«, brach Kieran an mich gerichtet das Schweigen und ich nickte. Schnell zog ich das Gerät hervor, das Bill mir gegeben hatte. Glücklicherweise hatte er auch Enyas Nummer eingespeichert. Sie hob auch sogleich ab.

»Freya?«, fragte sie atemlos. »Oder Lucius?«

»Freya.«, antwortete ich leicht stirnrunzelnd. Sie klang, als hätte sie einen Sprint hinter sich. »Ist alles in Ordnung?«

»Ja, alles gut.«, sagte sie. »Wieso rufst du an? Ist etwas schiefgegangen? Brauchst du Hilfe?« Die Besorgnis in ihrer Stimme war nicht zu überhören.

Dennoch wollte ich nicht erzählen, was geschehen war. Es schnürte mir noch immer die Kehle zu. Also brachte ich nur: »Wir kommen zurück.« hervor. Es folgte eine kurze Pause, ehe Enya »Okay.« sagte. Der Unterton ließ mich ahnen, dass sie anhand meiner Worte ein ungutes Gefühl hatte. Doch sie hatte gemerkt, dass ich noch nicht bereit war, darüber zu sprechen. Also ließ sie es bleiben und hob sich das für später auf.

»Gut, Freya. Hör mir zu: Kommt nicht nach London.«, sagte sie eindringlich.

Augenblicklich sank mir das Herz in die Hose. Irgendetwas war geschehen. Irgendetwas musste geschehen sein. Als ich noch dort gewesen war, was gar nicht lange her war, war Enyas Haus sicher gewesen.

»Schon seit der Sache auf der Brücke ist die Polizei deutlich aufmerksamer und strenger. Das mit der Grenzkontrolle weißt du.« Sie klang ernst. »Aber jetzt, nachdem Sanyas Flugblätter das Internet dominieren – und ich freue mich wirklich darüber, auch wenn es gerade nicht den Anschein hat – ist das hier ein Ausnahmezustand. Es genügt schon ein geringer Verdacht und die Polizei kann ohne Beschluss Häuser und Wohnungen durchsuchen.«

Freya Winter - MutantWo Geschichten leben. Entdecke jetzt