Kapitel 90.1

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„Dank Sanya werden wir nun anders handeln.", sagte Samuel. Ein überzeugtes Funkeln trat in seine dunklen Augen und ließ sie so unglaublich lebendig aussehen. „Wir werden uns selbst nicht mehr ganz so sehr in den Vordergrund stellen, wie bisher. Wir werden es ruhiger und zurückhaltender angehen. Nach Möglichkeit werden die Menschen uns gar nicht mehr aktiv mitbekommen. Stattdessen -" Samuel drehte sich zum Tresen, der das Wohnzimmer von der Küche trennte. Er griff nach etwas, drehte sich wieder zu uns um und hielt etwas hoch. Die, die es noch nicht kannten, beugten sich neugierig vor. In seiner Hand hielt Samuel eines von Sanyas fertigen Flugblättern, an denen sie heute gearbeitet hatte, nachdem sie uns ihre Skizzen vorgezeigt hatte. Auch ich betrachtete das fertige Flugblatt interessiert. Die fertige Version sah so unglaublich gut aus. Noch dazu war es die Version, die mir persönlich am nächsten ging.

Sanya hatte die Schriftart und -farbe verändert. Somit passten die Worte besser zum Gesamtbild und trotzdem stachen sie hervor, ohne der dazugehörigen Zeichnung die Aufmerksamkeit zu stehlen. Beides wirkte nun so erstaunlich stimmig. Und noch immer wurde mir beim Anblick der beiden Kinder auf dem Papier, wie auch dem Satz, der über ihnen stand, ganz anders. „Erinnert euch! Wir sind keine Fremden!" Darunter war wieder zweimal das selbe Kind zu sehen. Einmal in menschlicher Form und einmal als Mutant. Wie zuvor in der Skizze schaute das menschliche Kind am Betrachter vorbei. Erst jetzt wurde mir die Bedeutung dahinter klar. Sanya hatte das beabsichtigt. Erstaunt und bedrückt zugleich lagen meine Augen auf dem menschlichen Kind. Es war so sorglos, so glücklich. Es brauchte sich um nichts zu kümmern.

Im Gegensatz dazu blickte das Kind, das nun zu einem Mutanten geworden war, dem Betrachter scheinbar genau in die Augen. Sein Blick war traurig, gezeichnet von Schmerz und Sorge. Obwohl es ein Kind war, waren es definitiv nicht die Augen eines Kindes. Zumindest sollten kindliche Augen so nicht aussehen. Aber bestimmte Umstände brachten bestimmte Veränderungen.

Nach wie vor berührte mich diese Darstellung am meisten. Aber ich glaubte, dass jeder Mutant sich mit den beiden dargestellten Kindern identifizieren konnte. Nun konnten wir nur noch hoffen, dass dieses Bild auch die Menschen berührte.

„Oh, Sanya!", hauchte auf einmal Siebenundvierzig. Ihre dunklen Knopfaugen glitzerten verdächtig. Die Hände hatte sie sich vor den Mund geschlagen. So hatte ich sie bis jetzt noch gar nicht gesehen. Es war ein überraschter Anblick. Bisher hatte Siebenundvierzig auf mich unfassbar stark gewirkt. Auf der Brücke hatte sie die Ruhe bewahrt und gehandelt. Und jetzt? Jetzt rang ebendiese Mutantin mit der Fassung.

Sanya lächelte schüchtern. „Mein Flugblatt scheint ich zu berühren.", stellte sie leise fest. Tatsächlich nahm sie Siebenundvierzigs Reaktion als ein Kompliment wahr, auch wenn es ihr zugleich unangenehm schien, das so zu sehen.

„Alles gut.", winkte Siebenundvierzig ab, während sie sich einmal über die Augen wischte und tief Luft holte. „Das ist der Wahnsinn, Sanya!" Energisch nickte sie, wobei ihre dunklen Rastas mitschwangen.

„Danke.", sagte Sanya und strich sich verlegen über eine ihrer hellen Federn am Hals. Nun schienen auch die restlichen Mutanten ihre Stimmen wiederzufinden. Von allen Seiten wurde Sanya Lob ausgesprochen. Diese war schon ganz rot geworden.

Samuel wartete noch einen Moment, bis es wieder ruhig geworden war. Tatsächlich dauerte es auch gar nicht lange und schon lag wieder alle Aufmerksamkeit auf ihm. „Es freut mich, dass euch Sanyas kleines Kunstwerk gefällt! Denn dieses und ihre beiden anderen Versionen werden wir alle gemeinsam vervielfältigen. Zwar hat Sanya schon einige Flugblätter gemacht, doch das reicht noch lange nicht. Aber zusammen werden wir das schaffen.", zuversichtlich sah Samuel in die Runde. „Wie ihr alle wisst, haben wir hier weder einen Drucker, noch können wir die Flugblätter irgendwo anders vervielfältigen lassen. Darum ist nun die Hilfe von jedem hiergefragt." Als er die erschrockenen Mienen der anderen sah, hob er beschwichtigend die Hände. „Keine Sorge. So viel Arbeit, wie ihr gerade wahrscheinlich denkt, wird es nicht werden. Wir werden die Flugblätter nicht an so viele Menschen wie möglich verteilen. Wie Elliot bereits zu mir sagte, reicht es, wenn wir sie ein paar Menschen zukommen lassen. Mit etwas Glück verbreiten sie sich dann über das Internet wie von selbst." Alle wirkten erleichtert. Vielleicht hatten sie tatsächlich gedacht, sie müssten Unmengen an Flugblättern herstellen.

Freya Winter - MutantWhere stories live. Discover now