Kapitel 69

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Kapitel 69

Es war als würde Lucius sich an einen wütenden Löwen heranschleichen und ihn beschwichtigen wollen. Und genau so verhielten sie sich auch. Beide. Doch leider war es genau so. So und nicht anders. Dagegen konnte ich nichts machen. Ich riss mich wieder zusammen. Ich hatte keine Zeit um in Selbstmitleid zu versinken. Das konnte ich später noch. Viel später.

Wieder machte Lucius einen vorsichtigen Schritt auf Liam zu und redete mit beruhigender Stimme auf ihn ein. Ich konnte ihn nur bewundern. Wie schaffte er das nur? Eine solche Selbstkontrolle zu entwickeln? Schnell schüttelte ich diesen Gedanken ab. Das konnte ich ihn später noch fragen. Ich sollte jetzt lieber eingreifen. Liam würde es nicht mehr lange dabei belassen, Lucius nur an zu knurren. Aus den Augenwinkeln nahm ich wahr, wie Levi nach einer Waffe griff. Sofort verengten sich meine Augen zu Schlitzen. Oh, nein! Das würde er nicht wagen! Außerdem würde ich es überhaupt nicht so weit kommen lassen! Genau wie ich hatte Kieran, der die ganze Zeit relativ gleichgültig hinten am Zelt saß und die Szene beobachtete, bemerkt, dass Levi angreifen wollte. Allerdings schneller als ich. Denn er hatte sich schon der Umgebung angepasst und schlich auf Levi zu. Dabei wirkte er so lauernd wie ein Raubtier. Und erneut stellte ich mir die Frage, ob Kieran vielleicht nicht nur Chamäleon DNA in sich hatte. Geschickt überrumpelte er den Ältesten der Gruppe und riss ihm das Wurfmesser aus der Hand. Levi wollte sich wütend beschweren, doch irgendetwas in Kieran Augen schien ihn davon abzuhalten. Ärgerlich bemerkte ich, dass ich so stand, dass ich nicht genau sehen konnte, weswegen Levi nun vor Kieran zurück wich und es nicht mehr wagte zu ihm zu sehen.

Ein gefährliches Knurren zog meine Aufmerksamkeit auf sich. Liam hatte sich auf meinen Bruder gestürzt. Seine lodernde Faust schoss auf Lucius' Gesicht hinab. Erschrocken hielt ich meinen Atem an. Meine Augen verfolgten die Szene, die sich wie in Zeitlupe abzuspielen schien. Innerlich verfluchte ich mich, dass ich nichts unternahm. Doch das war auch überhaupt nicht nötig. Lucius rollte sich blitzschnell zur Seite und Liams Faust ließ das Gras in Flammen aufgehen, wo Lucius vor dem Bruchteil einer Sekunde noch gelegen hatte. Für einen Moment atmete ich erleichtert aus. Ehe ich bemerkte, dass sich das Feuer ausbreitete. Weder Liam, noch Lucius schienen das zu bemerken. Dafür aber alle anderen. Kieran warf mir einen kurzen, auffordernden Blick zu. Durch ein knappes Nicken gab ich ihm zu verstehen, dass ich verstanden hatte. Der Geruch von Rauch und verbranntem Gras stieg mir in die Nase. Die Hitze schien mir unerträglich. Der Schwindel setzte ein, doch ich zwang mich, das zu ignorieren. Stattdessen umhüllte mich nun die Kälte und ich merken, wie es mir wieder besser ging. Ich hatte keine Zeit um mich für diese überraschende Wendung zu freuen und zu überlegen, was diese Erkenntnis für mich bedeutete. Es formte sich ein großer, unförmiger Block von Eis, der sich auf die brennende Stelle herab sinken ließ. Beinahe Zeitgleich ließ ich es schmelzen, wodurch das Feuer gelöscht wurde. Nur noch ein wenig Rauch und eine verbrannte Stelle ließen darauf deuten, dass es hier gebrannt hatte. Wut kam in mir auf, noch ehe ich sie unterdrücken konnte. Entschlossen trat ich zwischen die beiden Kämpfenden. „HÖRT AUF!", donnerte meine Stimme über die Lichtung. Schlagartig verharrten Lucius und Liam in ihren Bewegungen. Meine Augen glühten wie Eis in der Mittagssonne. Liams Lippen wurden zu einer schmalen Linie, doch je länger er mir in die Augen sah, desto mehr zog er sich zurück. Seine Flammen erloschen. Er wandte beschämt seinen Blick ab. „Es tut mir leid.", murmelte er, als er sich von mir abwandte und sich zu Kieran setzte, der am weitesten von uns entfernt auf dem Boden saß. Jetzt wandte ich mich meinem Bruder zu, der ein wenig zusammenzuckte, als er meine Augen sah. Doch das ignorierte ich. Jedenfalls momentan. Wütend trat ich auf ihn zu. „Was hast du dir eigentlich dabei gedacht? Du kannst einen Mutanten nicht einfach so verärgern! Vor allem, wenn du nicht weißt, was für ein Mutant er ist!", redete ich mich in Rage und gestikulierte wild. „Das hätte alles andere als gut ausgehen können! Gerade du solltest wissen, dass mit Mutanten nicht zu spaßen ist! Lucius, Mutanten sind keine Menschen!" Ich verstummte als ich realisierte, was ich da gerade laut ausgesprochen hatte. Ich spürte die Blicke von allen anderen auf mir. Selbst Kieran und Liam sahen mich stumm an. Lucius starrte mich schweigend an. Er sagte keinen Ton. Frustriert presste ich meine Lippen fest auf einander und wandte mich ab. Das Leuchten meiner Augen nahm ab und ich setzte mich still zu Kieran und Liam. Es war ganz ruhig auf der Lichtung. Niemand wagte es zu sprechen. Die Atmosphäre war auf einmal ganz angespannt. Als würde sie unter Strom stehen.

Kierans dunkle Augen wanderten zu mir. Ich starrte auf den Boden zu meinen Füßen. Nur einzelne Grashalme fanden hier ihren Weg durch die Erde. Der Wald um uns herum schien verstummt. „Du brauchst dich nicht zu schämen.", ertönte auf einmal Kierans leise Stimme. „Wir sind nun einmal keine Menschen mehr. Du hast bloß die Wahrheit ausgesprochen." Ich wagte es nun ihm ins Gesicht zu sehen. Kieran lächelte mich leicht an. Doch es war ein trauriges Lächeln. In diesem Moment bemerkte ich zum ersten mal, wie sehr auch Kieran unter all dem litt. Vorher hatte ich ihm das nicht angesehen. Er hatte es bisher gut verborgen gehalten.

„Ja.", klinkte sich auch jetzt Liam ein. „So es es. Wir sind irgendeine abstrakte Mischung aus Menschen, Tieren und irgendetwas vollkommen Absurdem." Seufzend verschränkte er seine Arme vor seiner Brust. „Aber das heiß noch lange nicht, dass wir nicht mehr menschlich sind." Nun wandte er sich Kieran und mir zu. In seinen Augen lag Entschlossenheit. „Wir sind nicht wie diese Mutanten, die den verbliebenen Rest ihrer Menschlichkeit aufgegeben haben und zu Monstern wurden. Klar, wir sind nicht vollkommen menschlich und Monster sind wir auch ein bisschen. Aber wir haben uns nicht dafür entschieden. Es wurde uns aufgezwungen. Und wie es mit uns weitergeht können wir selbst entscheiden." Er lächelte mich an. „Wirkliche Monster sind die von uns, die es auch mit Leib und Seele sein wollen und sich dazu entschieden haben."

„Kannst du es ihnen denn verübeln?", fragte Kieran düster. „Das ist ihr Weg mit all dem umzugehen."

Liam warf Kieran einen skeptischen Blick zu. „Tolerierst du diesen Weg etwa? Einfach den Rest von Menschlichkeit wegzuwerfen und sich dem inneren Monster hinzugeben?"

Kieran lachte trocken auf und seine dunklen Augen schwenkten zu Liam. „Kannst du das denn überhaupt nicht verstehen? Wieso sie das getan haben?" Sein Blick war leer. Kieran befand sich in weiter Ferne. „Diese ganzen Gefühle. Diese ätzende Verzweiflung. Kannst du nicht verstehen, dass sie das alles nicht mehr fühlen wollten?" Liam setzte an etwas darauf zu erwidern, doch dann blieb er still. Die Erkenntnis erwischte mich wie das Zucken eines Blitzes. „Du hast einmal überlegt, diesen Weg einzuschlagen!", entfuhr es mir entgeistert. Auf Kierans Lippen erschien ein merkwürdiges Lächeln. Sein Geist war noch immer in der ungewissen Ferne. Irgendwie machte er mir in diesem Moment Angst. Ich konnte es nicht erklären. Doch Kieran schien in diesem Moment in einer mir unbekannten Zeit und er schien mir so ... weise. War weise das richtige Wort dafür? Mir wollte kein anderes einfallen. Also beließ ich es dabei. Wieder einmal wurde mir klar, dass Kieran wohl schon mehr erlebt hatte, als er zugab. Und nicht viel davon war gut gewesen.

Plötzlich sprach Kieran wieder. „Ich habe nicht nur überlegt ob ich es tue."

Freya Winter - MutantWhere stories live. Discover now