Kapitel 71

4.3K 361 33
                                    

Kapitel 71

Wir alle schwiegen. Ich bemerkte, wie die Jäger immer wieder zu Kieran sahen. Ihre Blicke zeigten zugleich Neugier, wie auch einen Hauch von Angst und Misstrauen. Verständlich. Immerhin wussten sie ziemlich wenig über Mutanten. Und vor allem wenig über diesen speziellen Zustand.

Mein Blick huschte zu Kieran. Wie hatte er es schaffen können, da wieder heraus zu kommen? So weit ich wusste, war das unmöglich. Diese Frage brannte mir auf der Zunge, schwebte in meinem Kopf umher und wollte mich nicht in Ruhe lassen.

„Okay.", entschied mein Bruder das Thema zu wechseln und trat einen Schritt in unsere Richtung. „Ich würde vorschlagen, dass wir uns jetzt erst einmal über etwas anderes Gedanken machen!"

Liam sah so aus, als wollte er protestieren, doch ich stieß ihm meinen Ellenbogen in die Seite. Grummelnd setzte er sich wieder. Anders als ich war Liam Kieran gegenüber nicht bloß neugierig, sondern jetzt auch noch misstrauisch. Misstrauischer, als er es vorher wahrscheinlich schon gewesen war. Und genau so etwas konnten wir im Moment gar nicht gebrauchen. Wir alle waren auf der Flucht. Jäger, wie auch Mutanten. Mit dem Unterschied, dass die Regierung nicht wusste, wie diese Jäger aussahen und wer sie waren. Bei Liam, Kieran und mir war das leider nicht so.

Wir mussten uns aufeinander verlassen können. Konnten wir das nicht, würde es unsere Gruppe – oder was auch immer das hier war – von innen heraus zerstören. Und wir konnten uns es nicht leisten, alleine umher zu streifen. Vielleicht, aber nur vielleicht, wären wir so besser dran. Aber was das anging, war ich mir nicht so sicher.

„Wir könnten jetzt aufhören uns Gedanken zu machen und endlich zu Taten überschreiten!", bemerkte Liam schlecht gelaunt. Aber immerhin ging er auf Lucius' Versuch eines Themenwechsels ein. Erleichtert atmete ich aus. Die nächsten die ansonsten vermutlich miteinander gekämpft hätte, wären Liam und Kieran gewesen.

Herausfordernd sah Liam in die Runde. „Schließlich kann Audra sich nicht selbst befreien.", fügte er noch hinzu. Mir wurde schwer ums Herz als ich wieder an Audra dachte. Und an Aldric. Wie sollten Liam und ich ihr nur erklären, dass Aldric tot war? So etwas sagte man nicht einfach so.

„Gut. Einen Plan, wie wir Audra befreien, haben wir bereits schon.", fuhr Lucius fort und alle sahen ihn abwartend an. „Jetzt bleibt nur noch die Frage, in welches Gefängnis man sie gebracht hat." Mir lief es plötzlich prickelnd den Rücken hinunter. Daran hatte ich überhaupt nicht gedacht! Wie konnte ich daran keinen Gedanken verschwendet haben? Wir konnte Audra nicht helfen, wenn wir nicht einmal wussten, wohin man sie gebracht hatte.

Das bemerkte auch Liam, denn er seufzte auf und rieb sich die Stirn. „Weiß irgendjemand zufällig, wo Menschen hinkommen, die zu nett zu Mutanten waren?", fragte er bitter. Das klang so absurd. Doch leider war es die Realität. „Gibt es irgendein spezial Gefängnis, oder so? Für menschliche Verbrechen in Bezug auf Mutanten?"

Eigentlich würde ich ironisch auflachen, würde ich nicht betroffen sein. Wenn man sich das so anhörte und durch den Kopf gehen ließ ... Menschen konnten tatsächlich dafür eingesperrt werden, zu nett zu sein. Zwar zu Mutanten, aber eigentlich war es genau das. Übler Weise machte der kleine Teil mit den Mutanten für die Regierung ziemlich viel aus.

Die Jäger schienen zu überlegen. Gedankenverloren strich Jo mit ihrem Zeigefinger über die glänzende Klinge ihres Messers. „So etwas gibt es bestimmt.", meinte sie. „Aber gehört habe ich davon noch nicht." Sie wandte sich an ihre Kollegen. „Ihr etwa?" Jeder von ihnen schüttelte den Kopf.

„Vielleicht ist Audra auch in einem Gefängnis in der Nähe ihres Zuhauses.", überlegte James. „In einem gewöhnlichen Gefängnis. Wir sollten es zuerst dort versuchen." Doch Mikéle schüttelte nur skeptisch den Kopf. „Und was, wenn wir dort sind und sie nicht da ist? Dann weiß jeder, wie wir aussehen und nach uns wird gesucht werden!", gab er zu Bedenken.

„Hmm.", machte Levi zustimmend und rieb sich nachdenklich das Kinn. Ich musste Mikéle zustimmen. Auch wenn ich es ungern tat. Wir konnten nicht einfach auf gut Glück in irgendein beliebiges Gefängnis gehen und uns dort von den Überwachungskameras aufnehmen lassen. Selbst wenn es trotzdem gut gehen sollte, könnte doch irgendwann jemand misstrauisch werden und nachsehen. Oder wenn wir in zu viele Gefängnisse gingen. Das würde nach einer gewissen Zeit auffallen. Und dann würden unsere Gesichter im Fernsehen gezeigt werden, mit der Bitte der Polizei oder Regierung, sie bitte zu informieren, sollte man einen von uns sehen. Nein, wir brauchten Gewissheit. Alles andere war nur unvernünftig und würde jeden Einzelnen von uns unnötig in Gefahr bringen.

„Aber wie sollen wir herausfinden, welches Gefängnis das Richtige ist?", warf James in die Runde. „Wir können schließlich schlecht überall anrufen und nachfrage, ob sie zufällig eine Audra Harris bei sich haben!"

Genervt seufzend schloss Lucius kurz seine Augen und öffnete sie dann wieder. Er ließ sich auf den Platz vor dem Lagerfeuer sinken. „Das kann ja noch was werden!", murmelte er, wobei ich ihm im Stillen zustimmte. Wenn das so weiter ging, würde Audra niemals wieder frei kommen.

Auf einmal meldete sich Brenda zögerlich zu Wort. „So viele Gefängnisse gibt es nun auch nicht. Überlegt doch mal. Mutationen sind eine Angelegenheit der Regierung. Also würde die Regierung Audra doch in eines der Gefängnisse tun, das sie immer unter Kontrolle haben und das in der Nähe ist, damit sie es immer im Blick haben können.", sagte Brenda. „Welches Gefängnis würde sich also besser anbieten, als Wandsworth?" Alle starrten sie überrascht an. Jo ließ ihr Messer sinken und betrachtete Brenda forschend. Brenda schien unter ihres eindringlichen Blickes ein wenig in sich zusammen zu schrumpfen. „Das könnte sogar Sinn machen.", sagte Jo langsam. „Und Wandsworth befindet sich in London. Es ist also in der Nähe der Regierung."

„Ja, ja.", sagte Mikéle und machte eine wegwerfende Handbewegung. „Aber kannst du mit Sicherheit sagen, dass sich Audra Harris dort befindet?" Herausfordernd sah er Brenda an. „Kannst du eben nicht. Und wollen wir wirklich dieses Risiko eingehen?" Liam, dem das Ganze langsam zu lange dauern schien, ergriff wütend das Wort. „Verdammt, wir können uns nie wirklich sicher sein! Und welches Risiko wollen wir bitte eingehen? Wir, Kieran, Freya und ich, sind doch sowieso so gut wie zum Tode verurteilt! Und ihr seid Jäger!", er hatte sich wieder erhoben und dachte nicht wieder daran, sich hinzusetzen und ruhig zu sein. Sein durchdringender Blick glitt über die Anwesenden. „Die Regierung will euch fast genauso sehr tot sehen, wie uns! Was haben wir also schon zu riskieren? Außerdem liegt die Wahrscheinlichkeit ziemlich hoch, dass das Gefängnis, das wir suchen, Wandsworth ist! Was gibt es hier noch groß zu diskutieren? Wir sollten uns endlich auf den Weg machen!" Niemand sagte etwas. Liam verschränkte seine Arme vor seiner Brust und wartete.

Ich dachte über seine Worte nach. Unrecht hatte er jedenfalls nicht. Und auch Brendas Vermutung machte Sinn. Da lag sie mit Wandsworth wahrscheinlich gar nicht mal so falsch. Fragend sah Lucius zu mir. „Wie denkst du darüber?", wollte er wissen. „Lohnt es sich, es zu versuchen?" Schlagartig lagen alle Augenpaare auf mir. Kurz sah ich zu Kieran, doch der saß lässig auf seinem Platz und schaute desinteressiert in die Ferne. Ihn schien es jedenfalls egal zu sein, wie wir uns entschieden. Er würde jede Entscheidung hinnehmen. „Wir haben gar keine andere Wahl, als es zu versuchen.", sagte ich. „Schließlich können wir schlecht herausfinden, welcher Gefangener in welchem Gefängnis ist. Und wir können Audra nicht dort lassen."

Lucius stand auf. „Also ist es entschieden. Es geht wieder nach London. Na los, packen wir unsere Sachen und fahren los!", sagte er und somit war es endgültig entschlossen. Sofort erhoben sich die anderen Jäger und begannen, ihr kleines Lager abzubauen und ihre Sachen zum Auto zu bringen. Überraschender Weise machte Liam sich daran, zu helfen. Kieran dagegen machte sich nicht einmal die Mühe aufzustehen.

„Was ist los mit dir?", fragte ich ihn und er zuckte mit seinen Schultern, während er den Jägern und Liam dabei zusah, wie sie zusammen packten. „Ich bin mir nicht sicher, ob das wirklich eine gute Idee ist.", informierte er mich bloß, stand auf, verschwand in Richtung des Autos und ließ mich mit einem unguten Gefühl zurück.

Freya Winter - MutantOnde as histórias ganham vida. Descobre agora