Kapitel 98.4

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Morvah wurde ganz schnell hinter uns kleiner und kleiner. Erleichtert lehnte ich mich zurück und blickte nach vorne. Die Sonne tauchte die Straße vor uns in gleißendes Licht und bunte Felder säumten unseren Weg. Unwillkürlich fragte ich mich, wohin die Jäger wohl unterwegs waren. Außerdem hätte ich gerne gewusst, ob sie sich wieder der Jagd verschrieben hatten. Ich hoffte, nicht. Obwohl ich kaum glaubte, dass sie sich dem wieder widmen würden.

Vor uns wichen die Felder einem Wald aus grünen Tannen. Hoch ragten sie in den Himmel hinauf, verschluckten die Sonne und nur vereinzelte Lichtstrahlen berührten den Boden. Schatten schluckten uns, als das Auto die Grenze zwischen Feldern und Wald passierte.

Durch das Wehen des Windes in den Baumkronen tanzten Licht und Schatten miteinander. Es war noch gar nicht allzu lange her, da hatten Liam, Kieran, die Jäger und ich in einem ähnlichen Wald unser Lager aufgeschlagen. Dennoch kam es mir so vor, als wäre das vor einer Ewigkeit geschehen.

Kurz blickte ich zu Liam, der neben mir auf der Rückbank saß. Im Gegensatz zu mir hatte er seine Augen geschlossen und wirkte, als würde er dösen. Mir dagegen war es bereits zu hell und ich war bereits schon zu lange wach, um jetzt wieder einschlafen zu können. Aber das hatte er schon immer gut gekonnt. Seufzend betrachtete ich das Paket Wassereis auf meinem Schoß. Als Liam gepackt hatte, hatte er ein hellgrünes Band im Kleiderschrank des Cottages gefunden und es zu einer Schleife um das Wassereis gebunden, ehe er es mir auf meinen Platz im Auto gelegt hatte. Und genau wie er gesagt hatte, gab ich einen wunderbaren Gefrierschrank ab.

Und seine Worte gestern hatten mir gezeigt, dass es zwischen uns noch immer so sein konnte, wie zuvor. Bevor das mit Clausen geschehen war, auch wenn ich zugeben musste, dass ich anfangs befürchtet hatte, dass wir uns voneinander entfernt haben könnten. Ob ich das ertragen hätte, wäre es tatsächlich so gekommen, wusste ich nicht. Aber ich war auch froh, es nicht herausfinden zu müssen. Wir brauchten einander.

»Wie lange wollen wir heute eigentlich fahren?«, fragte ich mit gesenkter Stimme, um Liam nicht zu wecken.

»Erst einmal bis wir die nächste Tankfüllung brauchen.«, antwortete mir Audra. »Danach sehen wir weiter, in welche Richtung es weitergeht und wo wir die Nacht über bleiben.« Mit einem kurzen prüfenden Blick auf die Tankanzeige, nickte sie. »Wir können erst einmal ein paar Stunden fahren.«

Sie lenkte den Wagen sanft um eine von Bäumen gesäumte Kurve, ehe sie mit einem Mal erschrocken die Augen aufriss. Auch ich sah es. Genau mitten auf unserer Fahrspur stand ein Mädchen. In aller Seelenruhe betrachtete sie, wie das Auto auf sie zuschoss. Und sie war kein Mensch. Zumindest für die Dauer eines Wimpernschlages sah ich sie, bevor Audra auch schon mit aller Kraft auf die Bremse gedrückt hatte und das Lenkrad hektisch herum riss, um auszuweichen.

Dann geschah alles ganz schnell. Der Baum tauchte aus dem Nichts auf und der darauffolgende Knall ließ meine Ohren klingeln. Mit einem Ruck wurde ich nach vorne gerissen, während mein Anschnallgurt sich dagegen sträubte. Wie von selbst verhärtete meine Haut sich zu Eis und verhinderte das Schlimmste. Dennoch war mir schummerig und vor meinen Augen vollführten die Farben der Welt und die hartnäckige Schwärze einen wilden Tanz.

Das Auto stand still. Erschöpft blinzelte ich. Soweit ich bis jetzt feststellen konnte, verspürte ich keinerlei Schmerz. Meine Haut hatte mich gerettet. Ein Stöhnen neben mir zog meine Aufmerksamkeit auf sich. Mit zu einem vor Schmerz verzogenem Gesicht hob Liam seinen Kopf und fasste sich mit der Hand an die Stirn, die rot glänzte.

»Liam?«, fragte ich erschrocken, doch er wank ab.

»Alles gut. Wirklich.«, murmelte er, verzog noch einmal kurz das Gesicht, dann entspannte er seine Miene wieder. »Nur ein Kratzer.« Noch nie in meinem Leben war ich so froh darüber, dass Liam ein Mutant war. Er war robuster als die Menschen. Doch bei meinem letzten Gedanken fuhr es mir heiß den Rücken hinab. Audra!

Hastig befreite ich mich von meinem Gurt und krabbelte von meinem Sitz hervor. Doch ich war nicht die Erste, die nach ihr schauen wollte. Natürlich war Kieran vollkommen unversehrt. Das alles hatte ihm noch nicht einmal einen Schreck einjagen können. Routiniert hatte er sich abgeschnallt und inspizierte nun Audra. Ihre Augen waren geschlossen, doch ihre Brust hob und senkte sich noch immer. Sie war am Leben. Bewusstlos, aber am Leben.

Dennoch konnte ich meine Sorge nicht beiseite schieben. Von Audras Schläfe tropfte rot schimmerndes Blut und der Schnitt sah übel aus. Große Teile der Frontscheibe waren zersplittert und Audra war über und über mit kleinen Scherben bedeckt.

»Lass mich das machen.«, wies Kieran mich an und machte sich schon daran, Audra von ihrem Gurt zu befreien. »Bleib aufmerksam. Sieh nach draußen. Der Unfall war kein Zufall. Fünfundachtzig ist wegen uns hier.« Etwas an seinen Worten ließ mich erschaudern. Die Elitejäger. Sie hatten uns gefunden. Und sie hatten auf uns gewartet.

Schnell schüttelte ich meine ungute Vorahnung ab und half Liam beim Abschnallen. Dabei huschte mein Blick immer wieder suchend nach draußen. Doch die Straße war leer. Fünfundachtzig war fort. Aber noch immer in der Nähe. Dessen war ich mir sicher. Mein Herz klopfte so heftig, dass ich glaubte, es wolle mir aus der Brust springen.

Nachdem Liam abgeschnallt war, stieß er die Autotür auf und wankte hinaus. Dann half er Kieran mit Audra. Er nahm sie ihm ab und lud sie auf seine Arme, als wöge sie nicht mehr als eine Feder. In stiller Vereinbarung inspizierten Kieran und ich aufmerksam die Umgebung um uns herum. Das Mädchen war ganz bestimmt nicht alleine hier. Das würde bedeuten, dass wir es mit sechs Elitejägern zu tun hatten. Letztes Mal hatten wir sie noch in Schach halten können. Aber wie sah es heute aus?

Auch kam mir wieder der Fledermausmutant in den Sinn. Obwohl er mir leid getan hatte, empfand ich seine mögliche Anwesenheit hier als beunruhigend. Seine Emotionslosigkeit und seine vollkommen leeren dunklen Augen ängstigten mich mehr, als Ambrosia es je könnte. Denn die Leute, die für Ambrosia gearbeitet hatten, waren trotz all ihrer Taten noch immer Menschen. Menschen mit Wünschen, Bedürfnissen und Gefühlen. Aber der Fledermausmutant und die anderen Elitejäger? Sie waren völlig ohne Angst, ohne Sorge, ohne Mitgefühl und Gewissen. Das war beunruhigender als alles, was ich bisher gesehen hatte.

Liam trug Audra hinein in den schützenden Wald. Obwohl dieser unsere Feinde schützte, so würde er auch uns vor ihren Blicken schützen. Kieran und ich folgten langsam. Nichts sollte unseren Augen entgehen. Aber sowohl er als auch ich konnten Fünfundachtzig nicht finden. Der Erdboden schien sie verschluckt zu haben. Dennoch wussten wir beide, dass sie uns beobachtete.

Gemeinsam zogen wir uns immer weiter in den schattigen Wald zurück. Abgesehen vom Rauschen des Windes war es ruhig. Als wären wir ganz allein. Aber das waren wir nicht. Die Frage war bloß, wie viele der Elitesoldaten noch hier waren.

»Können sie sich getrennt haben?«, fragte ich Kieran mit gesenkter Stimme.

»Sie wussten, dass wir heute genau hier lang fahren wollten.«, sagte Kieran trocken. »Vielleicht wussten sie auch davon, dass die Jäger sich von uns getrennt haben. Ich kann mir vorstellen, dass sie sich darum aufgeteilt haben könnten.« Dennoch schien ihn die Möglichkeit, es mit weniger Elitesoldaten zu tun zu haben, nicht zu erleichtern. Aber sie waren auch nicht umsonst Elitejäger, wenn ihre Stärke allein in ihrer Anzahl läge.

Drohend ragten die Tannen über uns auf. Überall schienen sich die Schatten zu bewegen, sich uns entgegen zu strecken. Mittlerweile war von Audra ein leises Stöhnen zu hören. Gut, sie kam also wieder zu Bewusstsein. »Liam?«, murmelte sie kaum vernehmbar.

»Ja, ich bin hier. Es ist alles gut.«, sagte dieser.

»Das Mädchen ...«, stieß sie hervor. »Auf der Straße ...«

»Der geht es gut.«, beruhigte Liam sie. Ob das jetzt allerdings gut für uns war, bezweifelte ich sehr stark. Wir wurden nicht langsamer. Weder die Bäume, noch deren Schatten ließen wir aus den Augen. Ab und an sah Kieran hinauf, überprüfte die Baumkronen.

Unter unseren Füßen knackte und knirschte der Waldboden. Lediglich Kieran bewegte sich lautlos und mit jedem Schatten, jedem Busch und jedem Baumstamm, an dem wir vorbeikamen, änderten sich seine Farben. Er war eins mit seiner Umgebung. Verschmolz mit ihr. War nahezu unsichtbar, wenn man sich nicht gerade auf ihn konzentrierte.

Und dann geschah es. Lautlos, aber tödlich, schoss ein weißer Blitz von oben auf uns herab, stürzte sich auf Kieran, der jedoch rechtzeitig auswich und genügend Abstand zwischen den Angreifer und sich brachte. Dabei wirkte er noch nicht einmal erschrocken. 

Freya Winter - MutantWo Geschichten leben. Entdecke jetzt