Kapitel 109

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Trotz unseres Zeitdrucks ließ Kieran Flavio seine Zeit, auch wenn ich ihm ansehen konnte, dass er noch deutlich mehr davon gebraucht hätte, als Kieran ihm schließlich beim Aufstehen half und ihn stützte. Langsam bewegten sie sich auf uns zu. Jeder einzelne Schritt schien für Flavio eine Qual zu sein, doch ich bezweifelte, dass seine Schmerzen physischer Natur waren.

Misstrauisch beäugten Elliot und Samuel die Fledermaus, während ich in Siebenundvierzigs Miene Mitgefühl und Verständnis ausmachen konnte. Anders als die beiden anderen hatte sie keinerlei Bedenken, ihn mit uns zu nehmen. Das fiel auch Samuel auf und sogleich entspannte er sich merklich. Er vertraute auf ihr Urteil.

»Die Soldaten -«, begann Samuel mit gesenkter Stimme, doch Kieran unterbrach ihn.

»Sie sind desertiert. Haben sich in alle erdenklichen Ecken verstreut und werden darauf achten, dass keinem Mutanten mehr etwas zuleide getan wird.«, sagte er knapp.

Samuels Gesichtszüge entgleisten. »Du hast dir doch nicht etwa deine eigene Privatarmee aufgebaut?«

»Ich brauche keine Armee.« Kierans Antwort war so trocken wie eh und je. »Mit dem, was sie mit ihrem zurückgewonnenen Leben jetzt anfangen, habe ich nichts zu tun.« Nachdenklich nickte der andere Mutant und beließ es dabei. Schweigend überquerten wir den Platz. Jeder in seinen eigenen Gedanken versunken.

Erleichterung erfüllte jeden Zentimeter meines Körpers, als mir nun klar wurde, dass die Regierung nichts mehr gegen uns in der Hand hatte. Ihre Waffe waren die Elitesoldaten gewesen. Aber die gab es nicht mehr. Jetzt musste sie endlich einsehen, dass sie uns nicht stoppen konnte. Der Stein war unwiderruflich ins Rollen geraten. Nichts konnte daran mehr etwas ändern. Egal, was sie noch tat: Sie konnte den Wandel nicht aufhalten. Verzögern, das vielleicht. Aber auf keinen Fall aufhalten.

Das würde die Regierung selbst auch bald feststellen müssen. Dieser Gedanke versetzte mich in Hochstimmung. Der Kampf mit den Jägern und den Elitesoldaten war unerwartet gekommen. Doch unser Sieg war alles andere als unbedeutend. Er besiegelte die Wandlung. Wir Mutanten würden nicht mehr aufzuhalten sein.

Mir Mr Melnikova im Parlament würde es vermutlich nicht mehr lange dauern, bis wir offiziell mit den Menschen auf einer Stufe standen. Es war nur eine Frage der Zeit. Wir hatten gewonnen. Unglaublich, dass ich noch nie darüber nachgedacht hatte, was es für uns bedeuten würde, die Elitesoldaten zu besiegen. Die Regierung war schutzlos. Nichts konnte sich mehr zwischen sie und uns stellen. Auch ihre Soldaten hatten sich von ihr abgewandt. Sie musste uns jetzt einfach anerkenne. Als teilte das Wetter meine Freude, hörte es auf zu regnen. Zwar verzogen sich die dichten, dunklen Wolken nicht, aber dafür war es trocken. Dennoch war mir der Himmel nie heller erschienen.

»Du lächelst.«, stellte Kieran fest. »Wieso?«

Jeder Schritt, den wir taten, fühlte sich federleicht an. All die Anspannung, all die Angst waren mir mit einem Mal von den Schultern gefallen und mit ihnen war ein gewaltiges Gewicht verschwunden, das mich niederzudrücken gedroht hatte. Ich konnte es noch gar nicht richtig glauben. Obwohl es natürlich noch nicht offiziell war, waren wir an unserem Ziel so gut wie angelangt. Es war nur noch eine Sache von Formalitäten. Ein paar Wochen, vielleicht, tippte ich.

»Wir haben gewonnen.«, sagte ich mit einem seligen Lächeln auf den Lippen. Ungläubig lachte ich leise auf. »All die Jahre. All die Unterdrückung. Und jetzt wird es bald endlich Wirklichkeit. Kieran, die Freiheit ist zum Greifen nahe.«

Zu meiner Überraschung schien er meine Freude nicht zu teilen. Finster starrte er nachdenklich in die Luft. »Da wäre ich mir nicht so sicher.«, sagte er.

»Die Elitesoldaten sind besiegt! Es gibt nichts mehr, das uns aufhalten kann. Nichts mehr kann uns davon abhalten, zu den Menschen durchzudringen. Die Regierung ist machtlos gegen uns.«, erklärte ich enthusiastisch. Wir konnten nach Hause. Nach all der Zeit konnten wir endlich nach Hause. Selbst, wenn sie die Regierungsagenten auf uns hetzen sollten, würde das nichts ändern. Nicht, wenn sie auf zu viel Gegenwehr stießen. Und es hatte doch schon längst begonnen. Die neuen Sendungen im Fernsehen waren der Beweis dafür.

Freya Winter - MutantWo Geschichten leben. Entdecke jetzt