Kapitel 27

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Kapitel 27

Liam und ich saßen am Teich, dessen Wasser ruhig und türkis vor uns lag. Die Sonne spiegelte sich darin. Ich blickte zum Haus in dem sich noch Audra und Aldric befanden. Das Golden Quarter war das schönste Viertel Londons und auch das teuerste. Hier lebten wirklich nur die Reichen, denn sonst konnte es sich niemand leisten hier zu leben. Und dementsprechend hatten sie wohl alle einen Mutanten bei sich zu Hause. Viel hatte ich aber nie von den Nachbarn mitbekommen. Und seit ich hier lebte hatte ich noch nie einen einzigen anderen Mutanten zu Gesicht bekommen. Liam war da natürlich eine Ausnahme.

Die Leute hier im Quarter, so erzählte uns Audra, behandelten ihre Mutanten wie Sklaven, was wir für sie ja eigentlich auch waren. Doch fragte sich denn niemand, wer die Mutanten vorher gewesen waren? Immerhin waren sie alle im Grunde noch Kinder. Glaubten die Menschen, dass wir künstlich hergestellt worden waren wie Maschinen? Na ja, in irgendeiner Art und Weise waren wir das auch, aber was ich meinte war, dass wir nicht aus dem Nichts entstanden waren. Wir waren schon vor der Mutation da gewesen und hatten ein eigenes Leben geführt. Waren zur Schule gegangen oder in den Kindergarten. Interessierte es die Menschen überhaupt, was wir damals gewesen waren? Dass wir wie sie gewesen waren? Dass manche von uns vielleicht ihre eigenen Kinder waren? Manche interessierte es vielleicht. Aber andere nicht.

„Du bist schon wieder in Gedanken, Freya.", lachte Liam neben mir und sein Blick fiel auf das Wasser. Sofort erlosch es wieder, ebenso wie das freudige Leuchten in seinen Augen. Ich spürte die Traurigkeit, die ihn durchdrang wie der Hieb eines Schwertes. „Ich mag kein Wasser mehr, Freya." Seiner Stimme hallte eine Welle von Traurigkeit mit. Sein Blick lag starr und trüb auf dem kühlen Nass des Teiches. „Damals war ich im Schwimmteam im Hallenbad unserer Stadt." Seine Hand bewegte sich langsam auf die spiegelglatte Wasseroberfläche zu. „Zu Hause hatte ich viele Medaillen von meinen Schwimmwettbewerben." Je näher seine Hand dem Wasser kam, desto mehr begann sie zu zittern. Ich schluckte und beobachtete den Jungen neben mir mitfühlend. Seine Stimme hatte begonnen zu beben. „Und jetzt? Jetzt habe ich doch tatsächlich Angst vor Wasser!", sagte Liam und seine Stimme klang so bitter wie schwarzer Kaffee. Er spuckte die Worte verächtlich aus. „Ausgerechnet ich!"

Millimeter bevor seine Hand die Wasseroberfläche berührte, zog er sie ruckartig zurück, als würde das Wasser versuchen ihn wie ein bissiger Hund zu beißen. Liams Kopf sank scheinbar völlig entkräftet auf seine Knie und er stieß einen verzweifelten Laut aus.

„Liam ...", murmelte ich und legte sanft meinen Arm um ihn. Sein Körper war wie immer sehr viel heißer als meiner. Doch wie immer störte uns beide die Körpertemperatur des jeweils anderen nicht. Weshalb auch immer. Und von uns beiden machten uns gegenseitig die Fähigkeiten nichts aus. Vielleicht lag es auch einfach daran, dass wir irgendwie das Gegenteil vom jeweils anderen waren. Nun gut, wirklich eine Erklärung war es nicht. Aber vielleicht war es ja wirklich die Erklärung. Vielleicht.

Ich hörte Liam mehrere male tief ein und aus atmen, ehe er sich wieder halbwegs gefasst hatte. Er richtete sich wieder soweit auf, wie es im Sitzen nun einmal möglich war und sah mich lächelnd an. „Ich bin froh, dass es dich gibt, Freya. Dass es dich noch immer gibt." Er verstrubbelte mir kurz mein silbernes Haar und grinste. Woher er so plötzlich diese Unbeschwertheit nahm war mir ein Rätsel. Aber ich war glücklich darüber, ihn nicht mehr so verzweifelt sehen zu müssen. Und Liam spielte es nicht. Er hatte irgendwie diese Gedanken an damals beiseite geschoben und somit seine Verzweiflung verdrängt. Ja, Verdrängung war keine gute Möglichkeit, aber eine wirksame Möglichkeit. Ich selbst tat es schließlich nicht anders. Auch wenn irgendwann all das, was ich verdrängt hatte wie eine Lawine auf mich herab stürzte. Dennoch eine Möglichkeit. Denn Vergessen wollte ich auch nicht. Meine Vergangenheit war ein Teil meiner Identität. Ob sie nun schön war oder nicht spielte dabei keine Rolle. Sie machte mich einfach aus.

„Ich bin auch froh, dass es mich immer noch gibt.", sagte ich zu Liam und lächelte, denn ich meinte es wirklich so. Egal wie viel Scheiße ich erlebt hatte – immer noch erleben werde – ich war froh und würde auch noch froh sein, dass es mich noch immer gab. Denn irgendwann würde sich all das was wir erlebten auszahlen. Eine bessere Zukunft. Ein besseres Leben.

Aber wird man Wesen wie uns jemals akzeptieren können? Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Die Hoffnung blieb. Auch wenn ich wusste, dass es immer Menschen gab, die nicht akzeptierten. Es war schon immer so gewesen und so wird es auch immer sein. Es schien beinahe schon wie ein Gesetz zu sein. Aber so war es nun einmal. Und weder ich, noch irgendwer anders konnte das verändern.

Liam seufzte und lehnte sich so weit nach hinten, dass er auf dem Rasen lag. Er verschränkte seine Hände hinter seinem Kopf und blickte hinauf in den blauen Himmel wo keine einzige Wolke zu sehen war. Er streckte seinen Arm horizontal aus und deutete auf den Himmel. „Da! Siehst du?"

Ich tat es ihm gleich und legte mich mit dem Rücken auf die Wiese. Meine Augen suchten den Himmel ab, doch ich konnte nur blau sehen. „Was ist denn da?", fragte ich verständnislos und kniff meine Augen zusammen in der Hoffnung, zu sehen, was Liam am Himmel sah. Doch so sehr ich mich auch anstrengte und ich konnte wirklich sagen, dass meine Augen alles andere als schlecht waren, sah ich dort nichts außer einem blauen, wolkenfreien Himmel.

Liam wandte seine Augen lächelnd vom Himmel ab und sah zu mir. „Ich sehe Hoffnung, Freya." Seine Augen leuchteten, was seinem Lächeln noch mehr Freude und tatsächlich Hoffnung verlieh.

Ich sah ihn einen Augenblick lang aus großen Augen an, dann schlich sich auch ein Lächeln auf meine Lippen. „Wie kommst du denn da drauf, Liam?"

Liam lachte leise und blickte wieder in den Himmel. „Guck nicht nur hin, versuche etwas zu sehen!" Er deutete erneut auf den Himmel. „Siehst du da etwas?"

Wieder blickte ich hinauf. „Nein. Da ist nur ein blauer Himmel, Liam."

Sein Lächeln wurde breiter. „Ganz genau!"

Verwirrt sah ich ihn an. „Und was genau willst du von mir hören?"

Liam schüttelte leise lachend seinen Kopf. „Der Himmel ist blau, ganz genau. Und mehr ist nicht zu sehen. Keine Wolken, keine Hindernisse. Freya, verstehst du? Hoffnung!" Und ja, langsam begann ich zu verstehen. Die Erkenntnis von dem was Liam meinte schlug in mir ein wie ein Blitz. Es war unglaublich wie deprimiert Liam in einem Augenblick sein konnte und im nächsten war er wieder so ... gut gelaunt und aufmunternd. Hoffnung. Und genau das war es, was wir brauchten.

„Liam, du bist wirklich unglaublich!", sagte ich grinsend.

Er grinste zurück. „Ich weiß." Dann schloss er seine Rubinaugen und schien unter dem Himmel einzuschlafen.

Freya Winter - MutantWhere stories live. Discover now