Kapitel 80

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Tagelang zeigte sich weder Clausen, noch Lucius. Man ließ mich einfach mit meiner Unwissenheit über das, was gerade vor sich ging, in meiner Zelle schmoren. Wie viele Tage genau vergingen, konnte ich nicht sagen. Ich wusste nur, dass es einige waren. Vielleicht waren es auch zwei Wochen. Genau sagen konnte ich es nicht. In der Zwischenzeit hatte ich versucht mit Varya ins Gespräch zu kommen. Es hatte sich als genauso aussichtslos erwiesen, wie ich es erwartet hatte, als mir die Idee gekommen war. Aber seit sie mir die Zeitung gegeben hatte, hielt sich meine Hoffnung standhaft. Obwohl sie noch nie ein Wort gesprochen hatte, hoffte ich weiter. Zwar bekam ich kaum eine Reaktion, aber das war fürs erste egal. Varya hörte mir zu. Ob sie wollte oder nicht. Sie hatte gar keine andere Wahl.

Manchmal, wenn ich sprach, schaute sie kurz auf. Doch dieses Aufsehen war so minimal, dass ich es kaum als eine richtige Reaktion zählen konnte. Dennoch tat ich es, denn es war eine Veränderung in Varyas Verhalten. Das zeigte mir, dass sie noch immer ein denkendes Lebewesen war. Ein Lebewesen, das handeln konnte.

Gelangweilt saß ich mit dem Rücken an das Glas gelehnt in meinem Gefängnis. Tatsächlich wünschte ich mir, dass endlich irgendjemand hier herein kommen würde. Einerseits um meine Langeweile zu verscheuchen, andererseits damit ich endlich Informationen erhielt, was außerhalb dieses Raumes vor sich ging.

„Als ich noch klein war, kam ich nicht wirklich mit den anderen Kindern meines Alters aus.", sagte ich. Oft erzählte ich Varya ein paar Geschichten aus meinem Leben. Ich wusste nicht, was ich ihr sonst sagen sollte. Ich drang einfach nicht zu ihr durch. Wenn überhaupt kratzte ich mit einem Löffel kaum erkennbare Kratzer in den gefrorenen Boden. „Ich war eher eine Einzelgängerin. Den Umgang mit anderen Kindern fand ich hinderlich. Wenn ich doch mal an einanderes geraten bin, ist das meist nicht gut ausgegangen. Das einzige Kind, mit dem ich wirklich gut auskam, war mein Bruder. - Dich brauche ich gar nicht erst zu fragen, ob du Geschwister hast." Mein Blick schweifte kurz zu Varya, deren Gesicht halb von der Zeitung verdeckt wurde, die sie in ihren Händen hielt. Ihre Augen folgten aufmerksam den Buchstaben. Seufzend wandte ich meinen Blick ab. Wenn das weiterhin so lange dauern würde, wäre es für mich irgendwann zu spät. Aber ich machte einfach keine Fortschritte mit ihr. Es war als sei Varya nur eine Maschine. Bei der Technik heute wäre das sogar möglich. Vor Jahren schon hatten verschiedene Forscher an einer künstlichen Intelligenz gesessen, die niemandem gefährlich werden konnte, nachdem davor überall von einer künstlichen Intelligenz berichtet wurde, so weit entwickelt war, dass sie sich gegen ihre Erschaffer gestellt und beinahe das gesamte Team ausgelöscht hatte.

Vielleicht war es den Forschern nun gelungen eine harmlose künstliche Intelligenz zu konstruieren, die dann sogar die gefährlichen Einsätze der Polizei in der Abteilung für Mutationen übernehmen konnte.

Jedoch sah Varya nicht wie eine Maschine aus. Dem Aussehen nach war sie eine Mutantin. Allerdings hatte man es bei ihr tatsächlich geschafft, sie zu einem willenlosen Sklaven zu machen, während das bei allen anderen gescheitert war. War Varya vielleicht die neue Art von Mutant? Die Version, die Ambrosia damals versucht hatte zu kreieren? Wenn dem so wäre, waren meine Versuche zu ihr durchzudringen reine Zeitverschwendung. Aber was war das dann mit der Zeitung? Weshalb zog sie dann manchmal ihre Augenbraue hoch, oder sah mit einem undefinierbaren Blick zu mir? Irgendetwas musste sich doch in ihr regen. Ich beschloss einfach fortzufahren: „Lucius und ich waren damals wirklich unzertrennlich. Das kannst du dir vielleicht nicht vorstellen, aber er war echt schüchtern und zurückhalten. Er wollte mich immer dabei haben, wenn er irgendwohin gehen wollte, weil er es alleine nicht konnte. Außerdem hatte er vor sehr vielen Dingen Angst. Er brauchte mich damals." Ich starrte in die Ferne. Diese Zeit schien so unendlich weit entfernt. Mittlerweile war es kaum zu glauben, dass Lucius jemals so gewesen sein sollte. Heute war er das komplette Gegenteil. Wenn ich es auf diese Weise betrachtete, hatte meine Entführung ihm zumindest bei dieser Sache gut getan. Da ich nicht mehr da gewesen war, musste er alleine lernen, klarzukommen. Er musste selbstbewusster werden. Lernen, für sich selbst stark zu sein. Und da er immerhin noch James gehabt hatte, hatte er Unterstützung, auch wenn James nicht rund um die Uhr bei ihm gewesen war. Damals hatte Lucius etwas gebraucht, das ihn zwang selbstständiger und selbstbewusster zu werden.

Was wäre gewesen, wenn ich niemals entführt worden wäre? Wäre Lucius noch immer so zurückhalten und schwächlich? Vielleicht hätte er dann irgendwann realisiert, dass ich der Grund war, weshalb es ihm niemals möglich war, sich auszuleben. Und dann würde er mich dafür hassen. Ich hatte ihm nicht gut getan. Ich hatte ihn ausgebremst.

„Er war immer so klein und schwach. Er hat bei so gut wie allem meine Hilfe gebraucht.", sagte ich. Meine Stimme war ganz leise. „Ich schätze, ich war Schuld daran, dass er nicht schon früher der geworden ist, der eigentlich aus ihm werden sollte. So gesehen war meine Entführung das Beste, was ihm passieren konnte." Es war schockierend das nun von dieser Sichtweise zu betrachten. Und das aller Schlimmste war, dass es ganz plausibel war. Ich hatte Lucius ausgebremst. Ich hatte ihn blockiert. Und das in mehr als einer Hinsicht. Bis zu ersten Klasse hatte er nie Freunde gehabt, weil ich niemanden hatte. So gesehen war es ein Wunder, dass er James gefunden hatte, obwohl ich zu diesem Zeitpunkt sogar noch da gewesen war.

Auch heute war ich nicht sonderlich besser. Ich war einfach wieder in sein Leben geplatzt, dass für mich keinen Platz vor. - Vor allem nicht als Mutant. Und das aus mehreren Gründen.

Sobald ich hier raus war, würden sich Lucius' und meine Wege endgültig trennen. Er brauchte niemanden wie mich. Schon gar nicht gebrauchen konnte er Mutanten, die er eigentlich jagte. Ich hatte mit meinem Auftauchen seine Welt aus ihren Fugen geworfen. Zumal ich nicht einmal mehr menschlich war.

Ich atmete tief ein und aus. Wem tat ich überhaupt gut? Alle, die sich in meiner Nähe befanden wurden durch mich entweder zu etwas gezwungen, was gegen ihre Auffassung der Welt sprach, oder sie wurden durch mich in Gefahr gebracht, da ich nun einmal Mutation Nummer 93 war. Vermutlich hätte meine Anwesenheit nur auf Kieran keine Auswirkungen. Wir waren beide Einzelgänger und wir waren wohl die einzige Person, mit der der jeweils andere durch die Weltgeschichte reisen konnte und trotzdem ohne Probleme überlebte. Im Gegensatz dazu würde Liam sich perfekt in eine der Gruppen der Mutanten eingliedern. Ich konnte mir vorstellen, dass er im Kampf gegen die Ungerechtigkeit richtig aufgehen könnte, auch wenn er jemanden brauchen würde, der mit seiner Impulsivität umgehen und sie im Notfall unter Kontrolle bekommen konnte. Darüber sollte ich später nachdenken, sollte ich jemals hier rauskommen. Als ich wieder aufsah, bemerkte ich, dass Varya mich ansah. Aber nicht so wie sonst. Irgendetwas, das wie ein Hauch von Interesse aussah, war ihr anzusehen. „Durch meine Entführung hatte Lucius die Chance, sich selbst zu verwirklichen. Er war nicht mehr eingeschränkt.", fuhr ich fort. „Bei mir ist genau das Gegenteil passiert. Ich wurde eingesperrt. In einer Röhre. Dagegen ist das hier viel Platz. An mir wurde herum experimentiert. Ich war acht, glaube ich. Und obwohl Ambrosia mir unfassbare Kräfte gab, war ich so eingeschränkt wie nie zuvor. Dafür musste ich noch nicht einmal in einer ihrer Röhren eingesperrt sein. Allein was sie aus mir gemacht hatten reichte aus."

Freya Winter - MutantWhere stories live. Discover now