Kapitel 98

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»Gut. Wenn du meinst.« Schulterzuckend, aber nicht überzeugt, lenkte ich ein. Ihm entging das natürlich nicht. Dennoch würde ich nicht sinnlos hier herumsitzen und meine Zeit vergeuden. Kieran war sicherlich schon losgegangen, um unsere Sachen zu packen. Nicht, dass ich hier irgendetwas mein eigen nennen konnte. Trotzdem könnte ich schon einmal Proviant für die Fahrt zusammensuchen. Wohin auch immer die uns führte.

»Nein.«, sagte Liam entschlossen, als hätte er meine Gedanken gelesen. »Du wirst jetzt nicht hier herumgeistern und packen.« Mit sanfter Gewalt schob er mich wieder zum Sofa und drückte mich auf die Sitzfläche. Gerade als ich protestieren wollte, verstärkte sich sein Griff. Finster funkelten mir seine Augen entgegen. »Du tust jetzt nichts. Entspann dich. Bitte. Komm zur Ruhe.« Neben mir rückte er die Kissen zurecht und drückte mir anschließend ein Buch in die Hand, das zuvor auf dem Tisch vor dem Sofa gelegen hatte. Irgendwer hatte es dort liegen lassen. »Lies oder leg dich hin und schließe deine Augen.« Der Ausdruck auf seinem Gesicht unterband jegliche Proteste. »Ich mache das schon, keine Sorge. Kieran und ich packen. Du und Audra bleibt hier.« Er behandelte mich als sei ich krank und bräuchte Bettruhe. Einerseits ärgerte mich das, andererseits konnte ich ihm deswegen nicht böse sein.

Er sorgte sich um mich. Das hatte er schon immer getan. So hatten wir es schon immer getan. Wir waren für einander da gewesen, wenn der andere Kummer hatte. Ob es wegen unserer gestohlenen Leben als Menschen bei unseren Familien war oder andere Gründe hatten. Wir hatten einander aufgebaut, hatten einander getröstet. Dass Aldric und Audra entschieden hatten, ihn von den Nachbarn abzukaufen, war ein Segen gewesen. Für ihn sowie für mich. Aldric war fort. Aber Liam war noch immer da. Und ich hatte ihn vermisst. Langsam zupfte ein träges Lächeln an meinen Mundwinkeln.

»Ah, da ist es ja!«, sagte Liam leise und ein erfreutes Lächeln erschien auf seinen Lippen. »Verliere es bloß nicht.« Er lachte und ich konnte nur lächelnd den Kopf schütteln. »Ich bin gleich wieder da, okay?«

»Mit Kieran packen, ja?«, fragte ich. »Bist du dir sicher? Ich weiß nicht, ob das sonderlich produktiv sein wird, wenn du dich die ganze Zeit bloß über ihn ärgerst und ihn provozieren willst.«

»Ach, komm schon.«, meinte Liam. »So schlimm bin ich auch wieder nicht.« Kurz zwinkerte er mir zu, ehe er sich auch schon auf den Weg machte. Kurz bevor er den Raum verließ, drehte er sich mir noch einmal zu. »Außerdem: Als ob Kieran jemals darauf anspringen würde.« Da hatte er auch wieder recht. Dann verschwand er und ließ mich mit Audra allein, die sich auf dem Sofa zusammengerollt hatte und allen Anschein nach eingeschlafen war.

Betrübt betrachtete ich sie. Sie hatte das nicht verdient. Sie war viel zu gut. Und zum ersten Mal fragte ich mich, ob wir für sie nicht mehr ein Fluch als ein Segen waren. Natürlich hatte sie selbst niemals so etwas in die Richtung angedeutet. In ihren Augen hatten wir ihre kleine Familie, die zuvor nur aus Aldric und ihr bestand, bereichert. Vermutlich sah sie das noch immer so. Aber all das Schlechte in ihrem Leben hatten wir zu verantworten. Ohne Liam und mich würde Aldric noch leben und sie beide würden glücklich in ihrer Villa im Golden Quarter leben. Wir hatten sie in Gefahr gebracht. Und wir hatten um ebendiese Gefahr gewusst.

Vorsichtig strich ich ihr eine kraftlose rote Strähne aus dem Gesicht. Ihr Anblick tat mir im Herzen weh. Selbst im Schlaf sah sie nicht entspannt aus. Die Trauer hatte sich in ihrem Gesicht eingebrannt. Würde sie jemals wieder verschwinden?

Vielleicht hätte sie mit Harlan, Michelle und den Kindern mitgehen sollen. In Spanien wäre sie in Sicherheit gewesen. Hätte ein ruhiges Leben führen können. Und wenn genug Zeit verstrichen wäre, hätte sie sich möglicherweise wieder für jemand neuen öffnen können. Sie hätte wieder jemanden gehabt, der für sie da wäre. Mit dem sie zusammenleben könnte. Leider war mir dieser Einfall zu spät gekommen. Ansonsten hätte ich versuchen können, sie zu überreden. Aber wahrscheinlich hätte sie das sowieso abgelehnt. Niemals würde sie Liam und mich zurücklassen, wenn wir doch ganz offensichtlich in Gefahr waren. Nein, so jemand war sie einfach nicht. Wir waren ihre Familie. So leid mir das auch tat.

»Hey, du hast das Buch ja noch nicht einmal aufgeschlagen.«, ertönte plötzlich eine Stimme neben mir. Erschrocken zuckte ich zusammen. Leise lachte Liam. »In Gedanken vertieft?«, stichelte er und mit einem Mal fühlte es sich zwischen uns wieder so an wie früher. Bevor wir in das Gefängnis eingestiegen war. Bevor wir mit den Jägern gereist war. Bevor unser Haus abgebrannt war. Liam war mir wie ein Bruder. So etwas, wie das, was Clausen und Lucius mir angetan hatten, konnte nichts daran ändern. Auch, wenn es jetzt anders sein mochte.

»Hier, schau mal.« Mit einem Grinsen hielt er mir etwas unter die Nase. Die Kälte, die davon ausging, nahm ich war, bevor ich sah, um was es sich handelte. Und als ich begriff, was Liam mir da gebracht hatte, breitete sich ganz ohne mein Zutun ein erfreutes Lächeln auf meinen Lippen aus. Zugleich stiegen mir die Tränen in die Augen, die ich genervt zurückhielt. Wieso war ich auf einmal so sentimental?

»Wassereis.«, flüsterte ich. Mir kam es wie eine Ewigkeit vor, seit ich so etwas zum letzten Mal in meinen Händen gehalten hatte. Langsam und nahezu andächtig streckte ich meine Hand danach aus. Als meine Finger das Eis umschlossen, spürte ich die angenehme Kälte an meinen Händen. »Liam, du bist wunderbar.«

»Natürlich bin ich das.«, lachte er. Doch dann erlosch sein Lachen und eine unglaubliche Traurigkeit verdunkelte sein Gesicht. »Weißt du, ich hatte wirklich Angst, dass ich dich niemals wiedersehen würde. Dass du genau wie Aldric für immer fort wärst. Doch als ich das Wassereis im Supermarkt gesehen habe, musste ich es einfach mitnehmen. Ich konnte nicht daran vorbeigehen. Denn schließlich hatte ich noch immer die Hoffnung - egal wie einzig sie war -, dass du noch am Leben wärst und zu uns zurückkehren könntest.«

Auf einmal glänzten seine Augen verdächtig, als er sich neben mich auf das Sofa setzte. »Wir hatten nur uns. Natürlich auch Aldric und Audra, aber sie können beide nicht verstehen, was wir durchgemacht haben und wie es uns mit all dem ging. Das ist selbstverständlich nicht ihre Schuld. Aber sie sind keine Mutanten wie du und ich.«, sagte er leise.

»Ich weiß, was du meinst.«, murmelte ich, während meine Finger fest das Eis umschlossen. »Sie haben sich immer Mühe gegeben, aber letztlich waren sie niemals in den Ambrosia-Laboren und sind nach wie vor Menschen.«

»Ich will ihnen das auch gar nicht zum Vorwurf machen.«, sagte Liam. »Aber es ist einfach nicht das Gleiche, mit ihnen über solche Sachen zu reden, wie mit dir. Und über die menschlichen Kinder, die wir einmal waren.« Ich nickte zustimmend. Für sie war das natürlich auch schrecklich und sie hatten immer so gut wie möglich versucht, sich in uns hineinzuversetzen. Aber das änderte nichts, dass sie unseren Schmerz niemals hatten spüren können und alles, was damit verbunden war.

»Ich hätte es nicht ertragen, dich zu verlieren.«, murmelte Liam kaum vernehmbar. »Allein daran zu denken, dass es so sein könnte, hat mich panisch gemacht. Und zum allerersten Mal ist mir wirklich bewusst geworden, dass man uns töten könnte.«

Zustimmend nickte ich. »Zuhause war unser sicherer Hafen.«, sagte ich. »Die Regierung und Ambrosia sowie die Mutantenjäger schienen immer weit entfernt. Als wären sie nicht mehr real oder könnten uns schlicht und einfach nichts anhaben.« Zumindest, bis die Ankunft unserer Jäger meine Augen geöffnet hat und mir wieder ins Gedächtnis gerufen hatte, dass es seit unserer Flucht aus den Laboren keineswegs vorbei war.

»Wir sind stark. Aber nicht unsterblich.«, schloss Liam damit ab. Das mochte stimmen. Aber auf Kieran traf das womöglich nicht zu. Doch das konnte Liam nicht wissen. So sehr ich ihm auch davon erzählen wollte. Von Kierans Fähigkeiten und wie er sie erhalten hatte. Allerdings lag es nicht an mir, zu entscheiden, Liam das zu erzählen. Das war ganz allein Kierans Entscheidung, auch wenn ich bezweifelte, dass er sich ihm jemals anvertrauen würde.

Ohne weitere Worte schloss ich Liam in meine Arme. Sofort erwiderte er meine Umarmung. Ganz fest drückte er mich an sich. Ich konnte die Verzweiflung spüren, die ihn so lange Zeit geplagt hatte, sodass er mich jetzt nicht mehr loslassen wollte. »Ich habe dich lieb, Schneeflocke.«, murmelte er an meine Schulter.

»Ich dich auch.«

Und mit einem Mal kam mir das Cottage gar nicht mehr so fremd vor. Wir hatten unser Zuhause verloren. Aber Audra und Liam waren noch da. Noch war nicht alles fort.

Freya Winter - MutantWo Geschichten leben. Entdecke jetzt